Sich der Stadt des Auges, der Stadt größter visueller Reize mit dem Ohr zu nähern, scheint ein gewagtes Unterfangen zu sein. Doch sind künstlerische Arbeiten, die zuvörderst vom Sichtbaren Venedigs ausgehen, nicht längst schon kaum mehr möglich angesichts der immensen Fülle, den die unvergleichliche Stadt in jenen Künsten hervorgerufen hat – oder gibt es einen Ort, der mehr besungen, beschrieben, gefilmt, gemalt und photografiert wurde? Ist das Hören nicht der wesentlichere Sinn, der, der tiefer ins Innere zielt und uns enger mit den Dingen, der Welt verbindet? Und bringt uns das Ohr nicht vielleicht reiner dem Seienden nahe als der Gesichtssinn?
Mein Hörstück Das schöne Gegengewicht der Welt führt uns nach der Zugfahrt von einem letzten Rest der Terra Ferma, auf dem plötzlich hörbar werdenden Damm Ponte della Libertà und der Ankunft am Bahnhof Santa Lucia auf ein Vaporetto der Linie 1, das während seiner etwa einstündigen Fahrt dann sämtliche Haltestellen am Canal Grande ansteuert, alle Sestiere berührt, am Hafen des Lido endet und uns schließlich hin zur Adria entläßt.
An jeder Station tut sich ein anderes "Hörfenster" in die Lagunenstadt hinein auf: Glockengeläut der gerade erreichten Region begrüßt uns, und wir tauchen ein in den Mikrokosmos verschiedenartigster, thematisch stets neuer Klangwelten. Eigentlich Ungleichzeitiges erklingt simultan – ein fast träumerisch-zeitloser Zustand entsteht, aus dem uns die Anlegegeräusche des Vaporettos dann wieder zurückholen ins Jetzt. Ein immer wieder fortgesetztes, in venezianischer Mundart geführtes Gespräch einer Gruppe älterer Männer verbindet die 20 Fermate ebenso wie damit korrespondierende Texte von Rainer Maria Rilke, der sich wie kaum ein anderer deutschsprachiger Schriftsteller vor allem in Briefen und Gedichten über diese Stadt, die ihm Sehnsuchtsort und stetige Herausforderung war, geäußert hat. Das Heutige in den Stimmen der betagten Männer, das Tradierte ihres Dialektes und der Rilkesche Ton der Emphase, seine nun schon historisch gewordenen, nie "Dekadenz" und "Morbidität" evozierenden Schilderungen und Eindrücke gehen ein spannungsreiches Miteinander ein mit der Aktualität der akustischen Erscheinungen Venedigs.
Das schöne Gegengewicht der Welt besteht nahezu ausschließlich aus einer Vielzahl elektronisch nicht transformierter Originalklänge, die nach thematischen und musikalischen Kriterien ausgewählt, angeordnet und aufeinander bezogen sind. Bis auf die Rilke-Texte werden keinerlei "gestellten" Aufnahmen verwendet, sondern nur solche aus der erlebten Wirklichkeit. Erst gen Ende, am Meeresstrand angekommen lassen wir die sonstige Allgegenwart der Bootsmotoren und der menschlichen Stimmen verschiedenster Zunge hinter uns, nicht aber den Glockenklang der ungezählten Kirchen, der noch von fern in Gestalt San Marcos herüberweht. Die zeitliche Struktur wird unterdessen von der zwanzigteiligen Vaporetto-Fahrt und den dabei aufgerufenen Namen der Stationen bestimmt, deren räumliche Distanz sich zum Ende hin vergrößert und somit das jeweilige "Hörfenster" weitet.
Vielleicht: ein Kontinuum, eine Passacaglia. Vielleicht: ein Mosaik, ein Panorama, ein Kaleidoskop. Vielleicht auch ein traumartiges Betreten und Verlassen einer Welt im Wasser; ein Hörraum, der die eigenen Bilder und Erinnerungen des Venedigreisenden emporsteigen zu lassen imstande ist.

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1. Introduction (Treno – Stazione Santa Lucia – Fondamenta Santa Lucia)

2. Ferrovia (Preghiere)

3. Riva de Biasio (Ponti)

4. San Marcuola (Ambulanze)

5. San Stae (Campi)

6. Ca' d'Oro (Traghetti)

7. Rialto Mercato (Pescheria)

8. Rialto (Erberia)

9. San Silvestro (Aqua alta)

10. Sant'Angelo (Bacari)

11. San Tomà (Frari)

12. Ca' Rezzonico (Campo Santa Margherita)

13. Accademia (Gondole)

14. Santa Maria del Giglio (La Fenice)

15. Salute (Bar)

16. San Marco (Piazza)

17. San Zaccaria (Gondolieri)

18. Arsenale (Biennale 1)

19. Giardini (Biennale 2)

20. Sant'Elena (Vetro – Addio)

21. Lido (Porto – Spiaggia – Mare)

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