Vorbemerkungen
Johann Peter Hebel selbst hatte wohl kein ausgeprägtes Interesse an der Musik. Auch sind Musikalisierungen seiner Texte unerwartet rar und dann auch zumeist eher volksliedhaften Charakters, so daß in rund 200 Jahren im Grunde nur eine einzige wichtige, auf seinen Schriften beruhende Komposition entstanden ist, und zwar Dieter Schnebels umfangreiches "Jowaegerli" ("Alemannische Worte und Bilder von und nach Johann Peter Hebel mit vokalen und instrumentalen Klängen und mit Schlagwerk") von 1982/83.
Im Herbst 2011, bei einem Wiederlesen seines mir lange schon vertrauten wundervollen und ergreifenden "Unverhofften Wiedersehens" (welches in "Jowaegerli" in voller Länge rezitiert wird), begriff ich mit einem Mal, daß mich dieser Text unabhängig von solcher Geschichte zu einer musikalischen Gestaltung ganz eigener Art nachgerade einlädt – daß ich den Gegenstand meiner zweiten Oper gefunden haben könnte, ohne ihn eigentlich gesucht zu haben.
Die beglückende Wahrnehmung der Kürze und Dichtigkeit des Textes, geradezu der Textur fordert zur mehrmaligen Lektüre auf, zum langsam-bewußten Tasten über jeden einzelnen Satz. So würde eine Hebel-Oper auch den Versuch darstellen, die Erzählung in der (selbst dann zum Thema werdenden) Zeit zu dehnen, würde nicht wie so oft ein überbordender Stoff in ein enges, verkleinerndes Korsett gepreßt, sondern ein überschaubarer, aber außerordentlich tiefenscharfer in ihm angemessene Zeitverhältnisse transponiert.
Der formalen Besonderheit der zwei Versionen meiner ersten Oper "The Wives of the Dead" entspräche nun der von Hebel unvergleichlich gestaltete Zeitsprung von fünfzig Jahren als eigenständiger musikalischer wie auch visueller Abschnitt, dem ein Wunderbares entspringt. Auch die sparsame, nicht verwickelte Handlung und ebenso die ineinander verwirkten Themen "Trennung – Schmerz – Aufarbeitung – Einheit" und "Endzeitlichkeit – Auferstehung – Aufhebung der Zeit" bedeuteten ein Pendant zum Hawthorne-Stück.
Gegeben erschien mir das Potential eines Ineinanderaufgehens von Bild und Klang, somit exklusiv der Oper eigene Wirkungen und Ausstrahlungen ermöglichend: ein Zielen auf unsere Mitte, in unsere Tiefe.

Zur Erzählung
Im historisch und ökonomisch bedeutenden Bergwerk im schwedischen Falun (1992 erst wurde es geschlossen) verschwand 1670 kurz vor seiner Hochzeit der Bergmann Mathias Israelsson. Erst 1719 wurde er aufgefunden und konnte von seiner früheren Braut identifiziert werden. Durch Eisenvitriol in der Grube war sein Leichnam nahezu vollständig konserviert worden.
Die Beschreibungen dieses überlieferten Vorfalls, im Laufe des 18. Jahrhunderts unter zunehmender Auslassung wissenschaftlicher Details nach und nach umgedeutet in ein Zeugnis treuer Liebe, mündeten dann 1809 durch die Zeitschrift "Jason" in einer "Dichter-Aufgabe", einer Art von Schreibwettbewerb, aus dem neben Hebels Erzählung eine Vielzahl von Texten hervorging. Auch späterhin beschäftigte dieser Stoff zahlreiche Autoren: E.T.A. Hoffmann löste etwa mit seiner Erzählung "Die Bergwerke zu Falun" (1819) auf ihr basierende Gestaltungen wie Richard Wagners gleichnamiges, unausgeführt gebliebenes Libretto (1842) und Hugo von Hofmannsthals Theaterstück "Das Bergwerk zu Falun" (1899) aus; und auch u.a. Friedrich Hebbel verwendete jenen Gegenstand in seiner frühen Erzählung "Treue Liebe" (1828) als Modell.
Johann Peter Hebels 1811 erschienene Kalendergeschichte "Unverhofftes Wiedersehen" ist jedoch die berühmteste und durchaus singuläre Ausformung des Sujets, dazu vielleicht einer der bedeutendsten Prosatexte deutschsprachiger Literatur überhaupt und zugleich einer der knappsten und verdichtesten. Hebel folgte der vorgegebenen "Jason"-Version, übernahm die Szene des Wiedersehens, erweiterte seine Erzählung aber um eine Vergangenheit der Brautleute und in Gestalt des Zeitsprungs um eine solche, die der Trennung folgte, bevor er die Gegenwart ausdehnte um einen Abschied, der in die Zukunft weist.
"Unverhofftes Wiedersehen" bewegt sich zwischen Gleichnis, Bericht und Fiktion, geschrieben in einer Sprache, deren Einfachheit eine hochreflektierte und nicht naiv-unmittelbare ist. Inmitten der klaren, spiegelbildlichen Formgliederung, der das Gespräch der beiden Liebenden vorangestellt ist, ist ein feines Netz von Bezügen, Symbolen und Korrespondenzen ausgelegt, so daß Bedeutung entsteht, ohne offen benannt werden zu müssen:
So etwa entspricht das Grab dem Hochzeitsbett, die Beerdigung der Hochzeitsnacht, das Stüblein dem Nestlein, das Nestlein dem Grab, das Leben als Verwesung dem Tod als Konservierung, der Tod des jugendlich Schönen der Lebendigkeit des hingewelkten Alters, das äußere Hinfälligsein der inneren Kontinuität, die schwarze der weißen Kleidung, der Schmuck des Halstuchs dem des Sonntagskleides, das Rot der Liebe dem Schwarz des Todes, der längste (St. Johannis) dem kürzesten Tag (St. Lucia) des Jahres, der Morgen und der Tag dem Abend und der Nacht, die Trennung der Einheit (einander am Ende nicht mehr ausschließend), der Schlaf dem zum Synonym werdenden Tod. Im Grunde gibt es zwei Abschiede (den des Bräutigams und den der Braut), zwei Trennungen (die durch den Tod und die durch das Begräbnis) und zwei Wiedersehen (dem unverhofften soll ein erhofftes folgen).
In der Innigkeit der Eingangsidylle ist alles schon auf die 50 Jahre spätere Wiederbegegnung hin angelegt, wie zum Beispiel das "holde Lächeln" vorausweist auf den "Mund, der sich nimmer zum Lächeln öffnete" oder "und ohne dich möchte ich lieber im Grab sein" einen Bogen spannt zu "bis sein Grab gerüstet sei". Nach dem Tod des jungen Bergmanns geht dann die Tageszeit unmerklich in Lebenszeit über und die Handlung erfährt eine radikale Beschleunigung. Die weltgeschichtlichen, quasi die Endzeit abbildenden Ereignisse, die der Zeitraffer nun bezeichnet und die weitgehend vom "Nicht-Mehr" her geprägt sind (der biblischen Art entsprechend, die Zeit festzuhalten, die in Jahreszahlen nicht numeriert ist), sind ein Gleichnis der Hinfälligkeit des Seienden und bilden einen Kommentar auf das Ereignis in Falun. Umwälzende Historie und persönliches Schicksal beleuchten sich gegenseitig. Nach kosmologisch Überwölbendem endet dieser Abschnitt mit der Rücklenkung des Blickes auf Falun. Das Auffinden des Verschütteten erinnert nun an die Auferweckung des Lazarus, wirkt wie eine Vorabbildung der Auferstehung. Die "8 Tage vor der Hochzeit" sind zu 50 Jahren geworden; der 8. Tag, der gedachte Hochzeitstag, wird nun zum 1. Tag einer neuen Zeit, einer neuen Schöpfung. Der Stillstand der inneren Zeit der Trauer ist für die alte Braut nun vorbei, das Warten hat ein Ende, die 50 Jahre erscheinen nun wie ein einziger Tag und das Grab ist die (ganz und gar nicht todessüchtige) Erfüllung dessen, was einst mit einem Kuß begonnen hatte. Hier und jetzt beginnt sich in Falun zu offenbaren, daß der Tod nicht mehr ist. Das Wiedersehen bedeutet Abschiednehmen, trägt in sich aber auch die Gewißheit eines zweiten Wiedersehens, einer wiedervereinigenden Einheit.

Zum Textbuch
Als reiner Text ist mein Textbuch nicht wirklich lesbar und wäre als Sprechtheaterstück wohl kaum sinnvoll aufführbar. Es bedarf der Verklanglichung, um die "leeren Stellen" überbrücken und um als Ganzes funktionieren zu können.
Formal und sprachlich übernimmt es weitestgehend den Hebelschen Text, den es, wo nötig, in direkte Rede umwandelt und verwendet nur selten eigene Formulierungen. Die Protagonisten sind schon der Kürze der Erzählung wegen keine vielschichtigen Charaktere, sondern gewissermaßen ganz sie selbst. Ihre Namen stammen von der historischen Figur des bereits erwähnten Mathias Israelsson und von der weiblichen Rolle der Anna aus dem Schauspiel von von Hofmannsthal, welches nach längerer Prüfung die einzige Übernahme aus den anderen, stark abweichende Wege gehenden Ausformungen des Stoffes darstellt.
Angesichts der Knappheit des Textes erschienen naturgemäß nicht Kürzungen, sondern (kommentierende) Erweiterungen notwendig:
Großformal um Prolog (vgl. die Einleitung der Geschichte selbst) und Epilog, die die Spiegelbildlichkeit der Erzählung noch verstärken. Sie verwenden weitere Texte aus Hebels "Kalendergeschichten", die aus dem Off von einem Sprecher artikuliert werden, was seine Ergänzung im 2. Teil findet, wo an zwei Stellen das gesprochene Wort in den gesungenen Laut einfließt.
Wie von Hebel selbst bereits angelegt und etwa auch im ihm vertrauten "Basler Totentanz" (15. Jahrhundert) gestaltet, erscheint "Der Tod" personifiziert als auf Mathias bezogene und ihn rufende Figur, die, obwohl auf der Bühne sichtbar, von den übrigen Darstellern nicht wahrgenommen werden kann. Ist er in psychoanalytischer Deutung vielleicht auch der ödipale Vater (Mathias wäre dann der Sohn und Anna die Mutter)?
Anders als in der Erzählung und jenseits des öffentlichen Rituals geht im 3. Teil der Blick hinein in die einsame Nacht im "Stüblein", wo Mathias als Phantasmagorie schließlich nach Anna ruft.
Sätze aus verschiedenen Stellen des Alten Testaments, die z.B. mit dem Anklopfen, dem Verschwinden im Berg oder dem Erdbeben motivisch im "Unverhofften Wiedersehen" bereits anklingen, sowie den längsten und den kürzesten Tag bezeichnende und so auf die eschatologische Nivellierung von Tag und Nacht vorausweisende Bauernregeln sind dem Chor anvertraut, der dem Publikum sichtbar in Gestalt der Bergleute und den Bewohnern Faluns, aber auch verborgen als Quasi-Schatten Annas, des Todes und des Sprechers und ebenso als "chorische Instanz" auftritt. Hebel-Ton, Bibel-Ton und "Volks"-Ton sind dabei kaum von einander zu unterscheiden, so daß die externen Texte sich mühelos einfügen können.
Die die Weltläufte benennenden Ausdrücke des Mittelteils, der 50 Jahre raffenden Geschichtspassage, des "Totentanzes" werden hingegen nicht artikuliert, sondern erscheinen ausschließlich in projizierter, lediglich lesbarer Gestalt, das Medium der sonst üblichen Übertitelung nutzend und somit verändernd.

Zu Form, Zeit und Ort
Prolog "Die Erde": zeitlos
Teil 1 "Der Abschied" (4 Szenen): 2 Wintertage im Jahr 1759; Wohnstube – Kirche – Bergwerk.
Teil 2 "Der Totentanz" (1 Szene): 50 Jahre von 1759 bis 1809; quasi raumlos; Projektionen – Videoeinspielungen.
Teil 3 "Das Wiedersehen" (4 Szenen): 2 Sommertage im Jahr 1809; Bergwerk – freier Platz – Wohnstube – Kirchhof.
Epilog "Der Komet": zeitlos

Zur Musik
Die Erzählung umfaßt gerade einmal zwei Buchseiten, wohingegen meine Oper bei 164 Partiturblättern immerhin 75 Minuten währt. Sie muß keine großen Textmengen bewältigen, im Gegenteil: jeder Satz, jedes Wort zählt. Der so sehr dichte Text, verwandelt in Musik, wird nun fühlbar in der Zeit und gerät gleichsam unter deren Vergrößerungsglas.
Bis auf den 2. Teil bedeutete das Komponieren insbesondere die Suche nach dem "richtigen" "Ton": eines Magischen, Ätherischen, Leichten, Bezwingenden und Verhaltenen, zumeist sehr zart und sehr intim. Singen nicht, weil man in der Oper nun einmal singt, sondern Singen als zu Klang gewordene, nun erst überhaupt verständlich werdende Sprache. Trotz gelegentlicher heftiger Ausbrüche und einer latenten Sforzato-Bereitschaft trachtete ich nach einer kristallinen Charakteristik, die keiner extremen oder extrovertierten Gesten bedarf: die Musik zielt mit einer spezifischen Subtilität, dem Einsatz von Erinnerungsgesten und atmosphärisch-klanglicher Verbindungen ganz nach Innen, Pathos zu vermeiden suchend, und ist durchzogen von Motiven des Gerufenwerdens – vom jeweils anderen und vom Tod.
Alle drei Teile dauern in etwa gleich lang. Geht es im ersten eher um das Abschiednehmen vom Vertrauten, handelt der dritte vom Aufbruch ins Unbekannte, so daß die Musiken dieser beiden Abschnitte nur punktuelle Korrespondenzen aufweisen. Im und um das Mittelstück stellen suchend-atmende, fermatendurchsetzte Erinnerungstakte die Zeit-Weichen, innerhalb derer in 20 Minuten zeitschrumpfend 50 Jahre vergehen und in die sich der Zuschauer mit hineingestellt fühlen kann – vielleicht sogar soll. Jedem gereihten Ausdruck entspricht ein prägnant-ereignisreiches "Kurzstück", das im Rahmen der inversiv angelegten Bezeichnungen der weltgeschichtlichen Ereignisse variiert wiederkehrt. Vorbei ist es jetzt mit dem intimen Ton: die Welt wird eingelassen, die Tempi sind zumeist deutlich schneller, die Zeit mahlt, reißt alles mit sich, der Tod tanzt (nun eher makaber und nicht mehr verführerisch), die Bühnensituation ist komplett verändert. Motive dieses Strudelartigen reichen dann gelegentlich gar noch in den 3. Teil hinein. Zu Beginn der 9. Szene dann ein retardierendes Moment, ein Unerhörtes vorbereitend. Das Abtreten Annas am Ende dieser Szene, ihre Hoffnung, Zuversicht, gar Gewißheit konnten dann noch nicht das Ende der Oper bedeuten – zu sehr schienen mir ein längeres Verebben, ein sich wieder Gewahrwerden, ein Wiedergewinnen von Distanz, eine Übersetzung in ein Übergeordnetes und damit auch eine Korrespondenz zum Beginn notwendig zu sein. So kehrt die anfängliche "Sternenmusik" im Epilog wieder, mannigfaltig verändert und lange auslaufend. Das Geheimnis der Zeit, die zuende geht und einem Neubeginn entgegenstrebt.

Zu Szene und Regie
In den Rahmenteilen ist jeder Augenblick, jede Geste in einem quasi choreographierten Bewegungsspiel in engstmöglicher Verbindung mit der Musik gestaltet, welche zahlreiche Übergänge für Bühnenverwandlungen und szenisches Spiel bereithält. Es geht um die Entwicklung eines komplexen, fast ritualisierten, trotzdem schlichten und sparsamen Spiels.
Teil 2 hebt sich wie bereits angedeutet auch szenisch stark von den übrigen Teilen ab. Er quillt über von Bildern, die im gesamten Theaterraum erscheinen und sich zu jedem Unterabschnitt kontrapunktisch wie auch verdoppelnd verhalten. Fotos und Filmsequenzen der letzten 50 Jahre (kontrastierend also zu den von Hebel angeführten Ereignissen) und Details aus dem Basler Totentanz, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Titelzeile schnittartig sichtbar werden, aber auch autonom-kontinuierliche Videoeinspielungen in verschiedenen Dichtegraden mit Szenen aus Annas Leben und mit Bildern von Wachstum und Verfall sind nach einem stringenten visuellen Konzept angeordnet, dabei stetig Sogkraft gewinnend, während, im Unterschied zum Chor, Anna und Mathias wie festgefroren auf der Bühne verbleiben:
Ein langgestrecktes und aufwendig ausgeführtes, weitgehend textloses "Unterdessen", zwei Male begleitet von externen Hebel-Zitaten, unterbrochen von den vom Chor artikulierten berühmten Sätzen "Ein jegliches hat seine Zeit" aus dem Buch Kohelet, die dann auch in den 3. Teil leiten.

Schlußbemerkungen
Aus der sehr umfangreichen Sekundärliteratur zur Hebelschen Geschichte ragen zwei großartige Arbeiten heraus, die meine Sichtweise auf "Unverhofftes Wiedersehen" maßgeblich geprägt haben: zum einen Johann Anselm Steigers "Unverhofftes Wiedersehen mit Johann Peter Hebel. Studien zur poetischen und narrativen Theologie Hebels" von 1998 und zum anderen Carl Pietzckers "Johann Peter Hebels 'Unverhofftes Wiedersehen'. Ein psychoanalytischer Versuch" von 1996.
Hugo von Hofmannsthals oben erwähntes Theaterstück "Das Bergwerk zu Falun" wurde von Rudolf Wagner-Régeny in eine Oper verwandelt, die in Salzburg uraufgeführt wurde – in meinem Geburtsjahr 1961.
Der Johannistag 2015 bedeutete mir das Signal, Unverhofftes Wiedersehen exakt an jenem Tag abzuschließen. Und der Johannistag 2017 ist der Tag der Uraufführung von Unverhofftes Wiedersehen.