...Jeder Forscher kann das selbst überprüfen, indem er ein Kind, das solche Verse kennt, auf einen Spielplatz begleitet, und dann unbeobachtet aufpaßt, was geschieht, wenn es seine Verse mit anderen Kindern auszutauschen beginnt. Die Reaktion ist stets die gleiche: die anderen Kinder versuchen es zum Schweigen zu bringen, denn man singt solche Sachen nicht in Hörweite der Erwachsenen. Mit wiederholtem Kopfumdrehen (um zu sehen, ob der Erwachsene auch wirklich "nichts gemerkt" hat) entfernt sich die Gruppe dann und schließt sich, meist mit dem Rücken zu den Erwachsenen (das heißt: zu den Spielplatzbänken), im entferntesten Teil des Platzes wieder zusammen. Nun wird leise gesungen oder deklamiert. Gelächter wird sofort unterdrückt. Die Kinder benehmen sich wie eine Gruppe Erwachsener, die sich in der Minderheit fühlt und den Eindruck der Konspiration gibt, selbst wenn sie gegen nichts und niemanden konspiriert. Stets werden dabei die "bestbehüteten" bürgerlichen Kinder die eifrigsten sein. Je sorgfältiger der bürgerliche Erwachsene sein Kind von erotischen Erfahrungen und deren Niederschlag im "vulgären" Kindervers fernzuhalten sucht, um so erpichter ist das Kind darauf, bei solchen Zusammenkünften zu lernen und prahlerisch seine Kenntnisse von sich zu geben. Nur die Kinder, die in weitgehend aufgeklärten Elternhäusern aufwachsen, sind an solchen Versen desinteressiert...
Nach oben
...Hier liegt das Geheimnis der Faszination gewisser Verse. Hier liegt auch der Grund ihrer Langlebigkeit. Hier, schließlich, liegt der Beweis, daß es sich trotz des nichtkindlichen Ursprungs des Rohmaterials keineswegs um nachgeplapperte Erfahrungen der Erwachsenen handelt. Ganz bestimmte Sätze, ganz bestimmte Anklänge, ganz bestimmte Wortbilder – und nur diese – werden von bestimmten Kindern zu bestimmten Zeiten ihrer Entwicklung übernommen, verarbeitet, unbewußt verändert und mit zäher Beharrlichkeit weitergereicht. Was sind nun diese Wortbilder? Es sind – zumindest in den klein- und mittelbürgerlichen Schichten der deutschsprachigen Städte, aus denen all diese Verse stammen – die verbalen Niederschläge der Tabus und Verbote, die den Kindern von ihren Eltern, ihren Lehrern, ihren Nachbarn und dem ganzen bürgerlichen Establishment auferlegt werden. Diese Verbote werden nicht direkt, nicht wörtlich verarbeitet, sondern machen sich bei den kleineren Kindern auf dem Umweg über orale, anale und ödipale Sprachbilder, bei den größeren über phallische und allgemein genitale Wortbilder geltend...
Nach oben
...Nicht der Erwachsene ist der Elter des Kindes, sondern das Kind ist der Elter des Erwachsenen. Jeder Erwachsene war ursprünglich Kind, und all das, was er als Erwachsener denkt, fühlt und tut, geht auf das Denken, Fühlen und Tun seiner  Kindheit zurück. Das Geschlechtsleben des Kindes darf also niemals als mißverstandene Imitation des Geschlechtslebens des Erwachsenen definiert werden. In Wahrheit ist es das Geschlechtsleben des Erwachsenen, das eine mißverstandene Imitation des kindlichen Geschlechtslebens ist. Statt die Kinderverse als verdrehte Form der Erwachsenenverse zu betrachten, müssen wir die Erwachsenenverse als verdrehte Form des Kinderverses erkennen...
Nach oben
...Die bürgerliche Gesellschaft erzieht ihre Kinder von Geburt an zur Machtübernahme. Der Sohn soll werden wie der Vater, die Tochter so wie die Mutter, so daß sie weiterführen können, was die Eltern aufgebaut haben. Als Resultat dieser Erziehung hört das Bürgerkind sehr früh auf, sich selbst zu entwickeln, und realisiert statt dessen die Ambitionen der Eltern. Auch die Opposition des Bürgerkindes, der immer von neuem wiederholte Versuch, sich Selbstrespekt zu verschaffen, indem es das Gegenteil dessen tut, was der erwachsene Bürger von ihm will, stellt nur eine andere Facette jener Klassenstruktur dar, in der das Bürgerkind, selbst wenn es protestiert, nur gegen den Status quo reagiert, nicht aber eine alternative Ordnung postuliert. Reste dieser alternativen Ordnung bestehen zwar – sie bestehen selbst im Bürgertum - , aber sie bestehen im Verborgenen, sozusagen im kindlichen Underground: in jenen schöpferischen Tätigkeiten des Bürgerkindes, die es systematisch vor seinen Eltern und Erziehern verbirgt. Nur dort hört das Bürgerkind auf, den erwachsenen Bürger zufriedenzustellen. Nur dort ist das Bürgerkind überhaupt Kind und nicht ein Miniaturerwachsener...
Nach oben
...Jedes Teilchen dieser schöpferischen Kraft ist mit lebenslangem Leiden erkauft worden, denn die Misere, die aus diesen Versen spricht, hört ja mit dem Ende der Kindheit nicht auf. Sie prägt das erwachsene Leben dieser Kinder und macht sie zu dem, was sie sind: Wesen, die den Weltraum erobern, Sonden zu anderen Galaxien senden, aber nicht in Frieden mit ihren Nachbarn, mit ihren Ehepartnern, mit ihren eigenen Kindern leben können. Der sexuelle Gehalt dieser Verse ist nicht der Ausdruck gewachsener sexueller Wünsche, sondern eine verzweifelte Ersatzleistung, das blutende Wundmal der Verbote, mit denen die Kindheit in der bürgerlichen Gesellschaft eingeengt und vernichtet wird...
Nach oben
...Auch das, was der Erwachsene als "Humor" in diesen Versen empfindet, ist das Produkt intensiven Leidens, denn ich akzeptiere Freuds Theorie des Witzes als Produkt eines Konflikts und glaube deshalb, daß ein Kinder- und Jugendvers um so tiefere Konflikte enthüllt, je "witziger" er in unseren Ohren klingt. Das Gebäude des "schöpferischen", des "einfallsreichen", des "witzigen" Kinderverses ist ein Mausoleum, in dem das verlorene, das geopferte Glück der Kindheit aufgebahrt liegt. Je prägnanter ein Kinderreim klingt, um so gewaltiger müssen die Verdrängungskräfte gewesen sein, die den Konflikt in Prägnanz verwandelt haben...


Ernest Borneman
aus: "Die Ur-Szene (Das prägende Kindheitserlebnis und seine Folgen)", S.172-238, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main

Nach oben