Vorbemerkungen
In seinem 2021 erschienenen Buch „Liebe in Zeiten des Hasses“ wie auch in seinem flankierenden „Zeit“-Text „Wo bleibt die Liebe, wenn der Hass kommt?“ erkennt Florian Illies die späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre als Spiegel unserer Gegenwart, ähnlich wie sich die Renaissance in der Antike oder die Romantik im Mittelalter entdeckte. Zunehmend scheinen wir uns nach einer Zeit zu sehnen, die keine Sehnsucht kannte, scheinen wieder in einem Zeitalter der Hetze und des Hasses zu leben und verlernt zu haben zu lieben. Ein zurückgekehrtes radikales Freund-Feind-Denken habe sich etabliert, in dem es nie ums Argument oder den Austausch gehe, sondern nur ums Rechthaben. Symptomatisch sei die Frage Kurt Tucholskys „In der heutigen Zeit Liebe? Wer liebt denn heute noch?“ von 1931 gewesen, die den Blick auf das große unbeachtete, Verwirrung stiftende Thema jener Zeit lenke. Dem Kult um „Coolness“ und Kontrolle der Affekte entspreche Sophie Scholls „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt habt!“ von 1943 und Erich Kästners späterem Satz von der „einer epidemischen Lähmung gleichenden Trägheit der Herzen“. Aus Angst vor der Größe des Gefühls und vor den inneren und äußeren Dämonen sei das Innere vermauert worden. Nicht starr vor Schreck sollen wir nun aber am Rande stehen bleiben, wenn unsere Großherzigkeit und Liebe abermals unterzugehen drohen in einem neuen Meer des Hasses, sondern die Träg- und Starrheit unserer Herzen abwerfen, um wieder neu lieben zu lernen.

„Das Licht vom anderen Haus“ und „Die Reise“ von Luigi Pirandello, beide bereits zu Anfang eines katastrophischen Jahrhunderts am Rande Europas entstanden, handeln – bar jeglicher ironisch-nüchternen Darstellung – von Verschüttungen des Gefühls, von tiefen Emotionen und deren Wandlungen und Entwicklungen. Welche privaten und gesellschaftlichen Funktionalisierungen, welche selbst auferlegten und welche von außen kommenden Zwänge und Erwartungen halten uns so gefesselt und gelähmt, daß wir uns von ihnen befreit wünschten, um tatsächlich leben zu können? IL VIAGGIO: Kein Abend sachlicher Kühle, sondern zwei herzergreifende Geschichten von Erstarrung, die – um einen allerdings hohen Preis – in Liebe und wirkliches Leben münden.

Opernhistorisch von den Florentiner Intermedien abstammend, sind Einakter eher die Ausnahme kompositorischer Œuvres. Nicht ausführlich, sondern konzentriert geformt, taugen aber vielleicht gerade sie für bedeutsame und ungewöhnliche Theaterabende. Eine faszinierende Frage ist es, welcher Einakter einen anderen zu einem „vollständigen“ Opernabend ergänzen kann und wie er womöglich auf den vorhergehenden zurückwirkt. Unabhängig davon, daß auch ein Einakter durchaus „abendfüllend“ zu wirken vermag, kann es prinzipiell ein aufregendes und uneinholbares Erlebnis sein, zwei Geschichten statt nur einer erzählt zu bekommen, die beiden Stücke erfrischt in neuem Zusammenhang wahrzunehmen und so neue Aspekte in ihnen zu entdecken. Nach meinen Eindrücken resultieren jedoch in der Theaterrealität oft genug nicht wirklich befriedigende Ergebnisse: zu divergierend die dramatischen Konzeptionen, zu bemüht die Herstellung szenischer Bezüge, zu gewollt das Nebeneinander zweier Stücke, als daß stets ein rundum Überzeugendes entstehen könnte. Meine zwei Einakter besetzen nun von vornherein alle beiden Plätze einer solchen Produktion, so daß ihre Beziehungen dramaturgisch und kompositorisch schon bei ihrer Entstehung bedacht werden konnten. Nichtsdestotrotz sollen beide Stücke des so entstandenen „Ditticos“ zugleich so eigenständig sein, daß sie auch separat voneinander aufführbar sind, als Ergänzung eines bereits vorhandenen anderen Einakters bzw. als neues „Trittico“ mit einer fremden Kurzoper als zusätzlichem mittleren Formteil, neue Möglichkeiten des Zusammenwirkens eröffnend.

Doch ganz am Anfang allen Konzeptionierens stand die Begegnung mit der Pirandelloschen Novelle „Das Licht vom anderen Haus“, die ich angesichts ihrer inhaltlich tragenden, genuin theaterhaft beschriebenen Lichtverhältnisse als Bühnenwerk augenblicklich vor mir sah. „Die Reise“, weniger abstrakt, glutvoller und ausladender, hat im Grunde dasselbe Thema – das Erwachen aus Erstarrung und Leblosigkeit – und erschien mir rasch als komplementäre und gleichzeitig nicht konträre Ergänzung. Zwei verwandte, atemberaubende und erregende Geschichten, gar zwei Liebesgeschichten, die die Konzeption eines „Diptychons“ nicht nur gestatteten, sondern zu provozieren schienen. Zudem erfüllten die Novellen zwei für mich grundlegende Vorbedingungen eines Opernmaterials: es handelt sich um (außerhalb Italiens) weitgehend unbekannte Texte: von vornherein kann dem Vorhandensein bereits vorgefertigter Bilder entgangen werden; und beide enthalten innerhalb linearer Zeitverhältnisse nahezu keine Nebenhandlungen: ganz kann man sich auf die jeweils wenigen Figuren konzentrieren und sich ihnen hingeben, unabgelenkt von verwickelten Binnenerzählungen. Beide Stücke handeln von Grenzsituationen der menschlichen Existenz. Sie berichten vom Herausfinden aus inneren Gefängnissen, vom Ausbrechen aus den eigenen Grenzen, den Tabubruch nicht scheuend. Solcherart Extremsituationen sind es, die dem außerordentlich Artifiziellen von Oper gemäß sind und ein singendes Artikulieren, ein Zusammenfallen von Wort und Klang glaubhaft, ja notwendig erscheinen lassen.

Zu den Novellen „Il lume dell'altra casa“ und „Il viaggio“
So viel Trennendes die zwei Novellen enthalten, so viel Gleichartiges vereint sie auch: beide Male lastet eine bedrückende Vergangenheit auf dem gegenwärtigen Leben – die leidvolle Kindheit Tullio Butis bzw. der von Ödnis und Leere erfüllte langjährige Witwenstand Adriana Braggis. Es entwickeln sich zwei Aufbrüche in eine letztlich tragische Zukunft, in der auf Kosten Anderer bzw. auf Kosten des eigenen Lebens Liebe entstehen kann. Beide Novellen sagen etwas Ähnliches, daß nämlich Schmerz oder Tod der Preis für wahrhaftes Leben sind. Beiden gemeinsam ist eine tiefe Emotion, die von einem fundamentalen Mangel herrührt. Beide Protagonistinnen, Margherita und Adriana, verlassen ihre Kinder und sämtliche gewohnten Zusammenhänge. Beide Erzählungen sind an zentraler Stelle von liebesrauschartigen Zuständen bestimmt. Der Aussichtslosigkeit am Ende von „Licht“ entspricht die Ausweglosigkeit am Ende von „Reise“. Und alle vier Hauptfiguren haben in etwa das gleiche Alter, wie auch das Präsens beider in zeitlicher Nachbarschaft entstandenen Novellen dasselbe sein könnte – um 1900, vielleicht sogar dieselben 4, 5, 6 Wochen oder Monate.

Hingegen gibt es eine (wenn auch verstörende) Rückkehr in „Licht“ und (obwohl gewünscht und ausgesprochen) keine solche in „Reise“. Lichterscheinungen gehen in „Licht“ vom Zimmer der Familie Masci und in „Reise“ von unbekannten Landschaften und Gegenden aus. „Licht“ findet immer am selben Ort statt (die zwischenzeitliche Flucht oder Reise bleibt unerzählt), in „Reise“ wird die Bewegung im Raum selbst zum Thema. Schon die Titel der beiden Novellen betonen Unterschiedliches – Visuelles gegenüber Räumlichem. Einmal erscheinen die noch sehr jungen Kinder der vordergründig intakten Familie Masci, ein andermal Adoleszierende, die in der Familie Braggi über Jahre ohne Vater aufgewachsen sind. Im ersten Stück ereignet sich Liebe unerwartet unter Fremden, im zweiten zwischen verwandtschaftlich Vertrauten. Ein gravierender Tabubruch tritt nur in „Licht“ ein. Nur in Reise kommt einer der Protagonisten zu Tode. Vor allem die deutlich umfangreichere Reise, sprachlich mit spürbar komplexeren Satzgebilden gestaltet, ist vielfach der Introspektion der Hauptfigur gewidmet. Letztens unterscheiden sich die beiden Novellen auch in ihren sozialen Milieus: in „Licht“ agieren Personen eher einfacher, in „Reise“ eher vermögender Herkunft.

„Il lume dell'altra casa“ von 1909 ist ein Stück der Einsamkeit. Die verschiedenen Arten von Licht und Dunkelheit des Außen und Innen umfassen die zentralen Bilder der Erzählung. Auch wenn wir von Margherita Masci fast nichts erfahren (ist sie eine liebende oder eine frustrierte Frau?), ist sie doch neben Tullio Buti eine weitere wirkliche Hauptfigur der Novelle. Daß sie ihre Kinder verläßt, stellt einen eklatanten Tabubruch dar, der nicht erklärt, gerechtfertigt oder entwickelt wird: er geschieht (Stefan Zweigs „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ von 1927 wüßte Begründungen zu nennen). Die Maske der Mutter wird zerstört, so wie Tullio mitleidlos das Idyll der Familie Masci zerstört. Verborgenes kommt nicht nur bei Tullio, sondern auch bei Margherita an den Tag. Beide verhalten sich in ihrer tiefen Sehnsucht nach Leben rücksichtslos. Von ihrer gemeinsamen, fluchtartig angetretenen Reise erfahren wir nichts – vielleicht entspricht diese Reise gar derjenigen Adrianas und Cesares in „Il viaggio“? Die durch ein kaum bezwingbares Heimweh ausgelöste Rückkehr relativiert dann ihre Rücksichtslosigkeit, zeigt aber auch beider Scheitern an. Es gibt kein wirkliches Ende der „unerhörten Begebenheit“.

Auch in „Il viaggio“ von 1910 sind Einsamkeit und Zurückgezogenheit dominierende Motive. Die todkranke Adriana Braggi gibt sich erst, nachdem sie erfahren hat, daß sie bald sterben muß, ihrem Schwager Cesare Braggi hin, den sie schon vor ihrer fast zwanzig Jahre zurückliegenden Hochzeit geliebt hatte – wie er auch sie. Die Reise mit ihm über's Meer auf das Festland (eine Reise, die er alljährlich unternimmt, um zeitweilig von den Zwängen des heimatlichen Lebens befreit zu sein) ist für sie eine Reise ohne Wiederkehr, dessen sie sich völlig bewußt ist. Die Verschiebung der Stationen selbst wird zum Symbol für ihr aufblühendes Inneres, während das seinige vergleichsweise unerschlossen bleibt. Die beiden fahren von Stadt zu Stadt, in nahezu entgrenzter Liebe. Sie können und dürfen nirgendwo verweilen. Die Realität beginnt in einen seltsam schwebenden Zustand zu geraten. Am Ende erreichen sie Venedig, und sofort weiß Adriana, daß sie hier sterben muß. Daß die Bestimmung dieses Todes in der Stadt im Wasser stattfindet, mit der Assoziation der Gondel als Sarg, läßt Erinnerungen an Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ aufkommen, die jedoch erst ein Jahr nach „Il viaggio“ entstanden war. Ohne Adrianas Krankheit hätte es keine Reise mit Cesare geben können – Krankheit und Reise, Liebe und Tod bedingen einander. Erst, als er sie wegen einer Besorgung zeitweilig verläßt, kann Adrianas Tod geschehen. Vielleicht auch, „weil er plötzlich, als die Entscheidung gefallen war, Lust verspürte, allein zu sein, eine halbe Stunde lang ruhig zu sitzen und zu denken, wie er früher gedacht hatte und zu reden, wie er früher geredet hatte… Er war rückfällig geworden, und die Ordnung streckte einen Augenblick lang die Arme nach ihm aus.“ (Ingeborg Bachmann „Der gute Gott von Manhattan“).

Zum Textbuch
In späteren Jahren hat Luigi Pirandello etliche seiner Novellen selbst zu Theaterstücken umgearbeitet und damit deren Novellencharakter aufgebrochen. Zu meiner Überraschung hat er sich auch zur Oper geäußert, und zwar in einem Sinne, der sich – zu meiner doppelten Überraschung – mit entsprechenden Vorstellungen meinerseits weitgehend deckt. In seinem Essay „Illustratori, attori e traduttori“ von 1908 schreibt er: „Genaugenommen dürfte das Libretto einer Oper beim Lesen kaum zu verstehen sein, man müßte den Eindruck eines verstümmelten oder halbierten Kunstwerks haben; das heißt, es müßte den Leser unbefriedigt in der Luft hängen lassen, voller Begierde nach der anderen Hälfte, die aber nicht bloße Zutat ist, sondern ein wesentlicher Bestandteil: nach der Musik, die, mit dem Libretto zu einer Einheit verschmolzen, das vollständige Kunstwerk bilden müßte: die Oper.“ Musik nicht als verdoppelnde Illustration eines autonom lesbaren Textes, sondern als notwendiges Mittel, um die Leerstellen und Ungeschlossenheiten des Librettos mit Leben zu erfüllen und so erst ein übergeordnetes Ganzes erstehen zu lassen.

Formal sind beide Erzählungen in jeweils einen Prolog mit elf Szenen aufgelöst, die die Gestalt der Originale so weit wie irgend möglich zu erhalten suchen. In den Prologen werden Tullios bzw. Adrianas Vorgeschichten umrissen. Vor allem bei „Reise“ geschieht dies in erheblicher Verkürzung, in „Licht“ hingegen mehr szenisch als sprachlich. Nur im „Licht“-Prolog erscheint keine der später auftretenden Figuren. Italienisch ist zu Beginn die Sprache der Erinnerung, deutsch die der dann aktuellen Handlung. Das italienische Vokabular wurde außerdem den Chören zugeordnet, sobald sie mitunter Sprachliches artikulieren. Aus Symmetriegründen wurde in „Licht“ der Ort der Handlung nach Süden verschoben, ist nun also nicht mehr Rom, sondern Neapel, die „Liebesstadt“ von „Reise“. In „Licht“ singt ein Mann die Hauptpartie, in „Reise“ eine Frau, beide somit ein übergeordnetes Paar bildend. Ebenso ergänzen sich die Stimmgattungen der Protagonisten von „Licht“ (Bariton und Mezzosopran) mit denen von „Reise“ (Sopran und Tenor) zum Quartett. Tullio formuliert zunächst nur in abgerissenen Sätzen, was sich erst nach dem Erlebnis des Familienidylls ändert. Die beiden Sängerinnen von Clotildina Nini und ihrer Mutter können auch die Rollen der – nun mit einem Vornamen versehenen – Braggi-Söhne übernehmen. Die Ninis entsprechen den Söhnen zudem als jeweils kontrastierendes, einer anderen Sphäre zugehörendes Figurenpaar. Der anfängliche Blick Tullios in einen Spiegel kehrt wieder im analogen Blick Adrianas gen Ende. Eine Erweiterung für die Bühne bedeutet die Einführung der Phantasmagorie der Söhne am Ende von „Reise“. Den zum Teil sehr knappen und faktischen Szenen von „Licht“ stehen die zumeist umfangreicheren und immer wieder Bewußtseinszustände reflektierenden von „Reise“ gegenüber. Das magisch-beschwörende Zurufen der Namen verbindet die beiden Einakter ebenso wie der Einsatz des jeweils unsichtbaren Männer- bzw. Frauenchores. Eigene Formulierungen und Ergänzungen wurden nur dort verwendet, wo sie im Sinne einer einleuchtenden Handlungsführung unabdingbar erschienen. Externe Texte wurden jedoch nicht eingearbeitet. Vittorio de Sicas gleichnamige Verfilmung von „Il viaggio“ („Die Reise nach Palermo“) von 1974 bot keinerlei Anhaltspunkte für die Bühnengestaltung – zu sehr reduziert sie die Novelle auf's Sentimentalische.

Ferner sind, alternierend zu den jeweils 11 Szenen, 9 („Licht“) bzw. 11 („Reise“) zwischenspielartige „Tenebre“ eingefügt, die die beiden Einakter strukturell und dramaturgisch zusätzlich miteinander verklammern. Sie stellen einen Reflektionsraum dar, in dem Atem geschöpft und Erwartung für Kommendes entstehen kann. Die Ausdehnung der verschiedenen Szenen innerhalb der beiden Einakter ist ungleich verteilt, weshalb sich der Schwerpunkt bei „Licht“ eher in die Mitte (Szenen 4 und 7), bei „Reise“ mehr ans Ende (Szenen 9 bis 11) verschiebt. Die beiden sich ergebenden dramatischen Bögen sind somit von unterschiedlicher Art.

Zur Musik
Beide Einakter sind als gleichgewichtige und eigenständige Arbeiten gedacht, die mannigfaltig aufeinander bezogen sind und auch gemeinsames Material in sich tragen. Bei „Licht“ handelt es sich um das insgesamt dunklere, bei „Reise“ um das hellere und zugleich ausgedehntere Stück. Die Prologe umfassen – verschiedene Stationen durchlaufend – fragile Erinnerungsräume mit eruptiven Momenten („Licht“) und schwebend-gelähmten Zustandsbeschreibungen („Reise“). Dialogisches ereignet sich zumeist mit voneinander abgesetztem, differierendem Material, was sich bei „Licht“ ab Mitte der 7., bei „Reise“ erst mit Beginn der 9. Szene ändert. Nur gelegentlich werden höhere und hohe Lautstärken erreicht: der Pianobereich herrscht vor. Musiken des Staunens und gleichsam Erwachens durchziehen „Licht“ wie vor allem „Reise“. „Licht“ endet offen, wie mit einem Schrei, „Reise“ hingegen mit einem langgestreckten und leisen Verlöschen.

„Licht“ verharrt lange im selben Grundtempo, welches sich erst mit dem Zusammentreffen von Margherita und Tullio ändert. Ein wirklicher Zeitsprung und somit auch ein szenisches „Interludio“ ereignen sich nur in „Licht“; emphatisch steuert dieses auf die zentrale, nun gesteigerte sechstönige „Lichtformel“ zu. Und nur im Verlauf von „Licht“ bricht an maßgeblicher Stelle wieder der Prolog ein. Licht- und Kindermusiken prägen silbrig leuchtende Partien innerhalb eines dramatisch-schmerzhaften Geschehens aus. Die entscheidende 4. Szene stellt die Weichen schon frühzeitig in eine neue Richtung.

Eisenbahn, Wagen, dann Dampfer und Gondel: die Verkehrsmittel des Immerweiter werden als Bewegungsformen in „Reise“ musikalisch spürbar. Nur in „Reise“ erscheinen immer wieder eine tradierte Traurigkeitsfigurik (Gruppetto) und der Leerklang als Symbol des Todes. Immer wieder – vor allem in Szene 7 – stellen sich Stationen des Entrücktseins Adrianas ein. Und immer wieder bricht sich hymnisch Befreiendes Bahn. Die 8. Szene stellt in ihrer Vielgestaltigkeit, ihrem Kontrastreichtum und Dialoghaften ein retardierendes Moment dar; ebenso die 5. Szene in ihrem variierten Wiederholen der früheren Arztszene. Szene 9 bedeutet einen erheblichen dramatischen Einschnitt und erscheint singulär innerhalb des Doppelabends: die Dampferfahrt gleicht einem Grenzübertritt, einer Transformation, einem magischen Übergang in eine andere Zuständlichkeit, gleicht gewissermaßen der Fahrt über den Styx.

Korrespondenzen der Abendhälften manifestieren sich zum einen in mancher Parallelität der Szenengestaltung, besonders deutlich zum jeweiligen Beginn der rauschhaften Liebessteigerungen (7. Szene „Licht“ bzw. 10. Szene „Reise“), beim allmählichen Erwachen Tullios bzw. Adrianas (4. Szene „Licht“ bzw. 6. Szene „Reise“) oder am Ende der beiden vierten, erste Erfüllung bringenden Szenen. Zum anderen, motivisch verbindend, erscheint die „Lichtformel“ in umgekehrter Ausrichtung ebenso in „Reise“, so wie auch die immer wiederkehrenden, vorhaltsgesättigten Appassionatogebilde von „Reise“ bereits in „Licht“ antizipiert sind. Szenisch-musikalische Korrespondenzen ergeben sich gleichfalls auch innerhalb von „Licht“ (Prolog und 2. Szene, Szenen 1 und 8 bzw. 3 und 5) und von „Reise“ (Szenen 2 und 5, 1 und 11 bzw. Szenen 8, 9 und 10).

Der ausschließlich in „Licht“ verwendete Männer- und exklusiv in „Reise“ eingesetzte Frauenchor hat keinerlei handelnde Funktion und bleibt daher durchgehend unsichtbar, übernimmt aber vielfältige andere Aufgaben: er hüllt die je gleichgeschlechtlichen Hauptfiguren Tullio Buti und Adriana Braggi vokal ein, ist deren Schatten, Spiegelung, Resonanzraum, Echokammer oder Klangverstärker, wird aber auch als zusätzliche „Instrumentalstimme“ verwendet. Zumeist artikuliert er textlos mit geschlossenem Mund, dem aber auch immer wieder einzelne Vokale entspringen. Vorwegnehmend oder nachwirkend kristallisieren sich gelegentlich originalsprachliche Wortentsprechungen heraus, die jedoch nur ausnahmsweise eine Erweiterung des solistischen Textes bedeuten.

Den insgesamt 20 „Tenebre“ ist stets eine andere Textur als den 22 Szenen zu eigen: statisch, kreisend, intern bewegt, fast immer an der Grenze der Hörbarkeit, monolithisch und oftmals monochrom. Manchmal nehmen sie Material des Vorherigen oder Folgenden auf. Ein musikalisches Weitertreiben und -entwickeln findet hier jedoch nicht statt.