ERFURT: DIE FRAUEN DER TOTEN von Alois Bröder - Uraufführung
Signal für einen Mentalitätswandel? In den letzten Jahren haben Opern, die das Geheimnisvolle, das Uneindeutige, das Gespenstische thematisieren, wieder Konjunktur. Das beginnt bei Heinrich Marschners "Der Vampyr", einer Frühform dieses Genres, und führt hin zu häufigen Neuinszenierungen von Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" oder Philip Glass‘ Oper nach Edgar Allan Poe, "The Fall of the House of Usher". Peter Eötvös hat den prominentesten zeitgenössischen Beitrag mit "Love and other Demons" geliefert und jetzt führt Alois Bröder mit seiner ersten Oper Die Frauen der Toten diese Linie fort.
Die Oper passt in die Welt von Poe, Ambrose Bierce oder Henry James, und der Autor der Vorlage, Nathaniel Hawthorne, gehört auch zu denjenigen amerikanischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, die sich von Romantik und Transzendentalismus, von mystischen und anti-rationalistischen Strömungen beeinflussen ließen und zwischen Schauer-Story und symbolistisch durchwehten Rätselgeschichten schwebend den Abgrund der menschlichen Psyche, die Unheimlichkeit der scheinbar so geordneten, rational erklärbaren Welt, den Einbruch übersinnlicher Erfahrung und das Wirken göttlicher, dämonischer oder teuflischer Kräfte thematisieren. Nicht etwa, um zu erklären oder eine eindeutige Position einzunehmen, sondern um den Leser mit dem Irrealis ihrer Sprache zu nötigen, eine säuberlich eingerichtete, durch klare Gesetze und Erkenntnisse geordnete Welt in Frage zu stellen. Klar: Freud ist nicht weit. Aber was diese Autoren tun, ist in der Romantik grundgelegt und dem Christentum nicht fremd: In der Welt existiert mehr, als der rational wägende und empirisch erkennende Geist wahrhaben will.
Mit wohligem Grusel hat das nichts zu tun, eher mit existenzieller Verunsicherung. Hawthorne siedelt Die Frauen der Toten in einer puritanischen Gesellschaft an, in der Schuld und Sühne allgegenwärtig und biblische Schriften vor allem eine Drohbotschaft sind. Bröder fängt die bedrückende Atmosphäre in der Einleitung der Oper ein: Die dunkel gekleideten Gestalten einer Beerdigungsgesellschaft versuchen zwei junge Witwen mit Sentenzen zur Auferstehung zu trösten, aber die Art, wie sie es tun, verwandelt die Botschaften in düstere Prophezeiungen.
Und die Toten kehren auch wieder, allerdings nicht als Auferweckte zu einem himmlischen Leben, sondern als unheimliche Gespenster. Mary und Margaret die Ähnlichkeit zu Maria und Martha, den Schwestern des biblischen Lazarus, liegt nahe haben ihre Männer gleichzeitig verloren. Es waren zwei Brüder, der eine blieb auf See, der andere kam im Krieg um. Nachts kommen zwei Nachbarn und berichten, die Männer seien doch noch am Leben. Jede der Frauen behält die frohe Botschaft für sich, um der anderen nicht noch mehr Schmerz zu bereiten. Mit einem sprachlich uneindeutigen Satz am Ende der Geschichte jedoch nimmt Hawthorne dem Leser jede Sicherheit: Ist das Erzählte real, oder doch nur ein Traum?
Alois Bröder hat dieses Gespinst aus Ahnung, Traum und Realität noch intensiviert, indem er die Geschichte in zwei "Versionen" erzählt. Musikalisch und sprachlich er wechselt bei der Wiederholung etwa vom Englischen ins Deutsche führt er noch tiefer in das Abgründige: Der Auftritt der Nachbarn wird zur Wiederverkörperung der gestorbenen? Ehemänner; das Verhältnis der beiden Frauen wird kritischer, zeigt Indizien von Hysterie und Hass. Regisseurin Gabriele Rech stützt die Zuspitzung mit minutiös ausgearbeiteter Personenführung, bricht den scheinbar ungebrochenen Erzählstil der ersten Version auf zunächst kaum merklich, dann immer konkreter. Am Ende des ersten Teils zieht Mary ihrer schlafenden Schwester Margaret die Bettdecke über den Kopf: Mord oder Fürsorge? Am Ende des zweiten Teils nehmen beide Tabletten und liegen reglos nebeneinander im Bett: Selbstmord oder Erschöpfungsschlaf?
Rech stützt den Alptraum-Aspekt der Oper auch in der Darstellung der männlichen "Gespenster": Sie lässt die unterschwellige Erotik spüren, die zwischen den Nachbarn und den Frauen knistert, verwandelt sie im zweiten Teil in eindeutige Szenen, die aber ihre Geheimnisse nicht verraten: Wenn Nachbar Stephen bezeichnenderweise eine Jugendliebe Marys sich plötzlich neben ihr im Bett erhebt, ist er dann eine Traumgestalt? Margarets heimgekehrter Mann? Oder nur der Nachbar, der die Chance des Augenblicks sexuell ausgenutzt hat?
Die Bühne Norman Heinrichs und die Kostüme Gabriele Heimanns frönen vordergründig einem historischen Naturalismus: Heinrich baut eine Art Puppenhaus, im Untergeschoss der gemeinsame Wohnraum der beiden Ehepaare, im oberen die getrennten Schlafräume. Aber das Licht (Stefan Winkler) bricht diese gemütvolle Häuslichkeit ins Unheimliche. Am Rand der Wohnstube liegen zwei Gräber ein surreales Element, das die Ahnung des Alptraums von Anfang an präsent setzt.
Alois Bröder, 1961 in Darmstadt geboren, hat bisher rund 90 Orchester- und Kammermusikwerke geschrieben. Mit Die Frauen der Toten legt er seine erste Oper vor und kann auf Anhieb überzeugen. Seine Musik ist nicht neuerungssüchtig, er verwendet mit den Farben der tiefen Streicher und der Posaunen, den traditionell der Traumsphäre zugeordneten Instrumenten Celesta, Flöte und Harfe, mit Tremoli, harmonischen Verschleierungen und Tritonus durchaus Mittel, die auch Benjamin Britten schon in "The Turn of the Screw" eingesetzt hat. Doch er imitiert nicht, sondern führt weiter.
Bröder widersteht der Versuchung, die Stimmen der Sänger in extreme Lagen zu führen oder das Orchester klanglich zu massieren. Die Struktur seiner Musik ist stets durchsichtig, oft kammermusikalisch geprägt; die heftigen Akzente wirken umso verstörender. Bröder versteht es, das Zwielicht, das dieses Stück bestimmt, musikalisch einzufangen und atmosphärisch auszugestalten. So wünscht man sich Opernmusik: individuell und selbständig, auf der Höhe der Zeit, markant im Ausdruck, aber stets orientiert am Ziel, eine packende Geschichte dramatisch schlüssig darzustellen.
Mit den aufmerksamen Solisten des Erfurter Philharmonischen Orchesters und dem sensiblen Klangfarbengestalter Johannes Pell am Pult hat Bröders Musik engagierte Sachwalter gefunden. Auch die Sänger stehen dem nicht nach: Sie lassen sich von Gabriele Rechs detaillierter Regiearbeit szenisch fordern, überzeugen ebenso mit musikalisch sorgfältiger Nuancierung ihrer Partien. Bei Marisca Mulder (Mary) und Mireille Lebel (Margaret) ist der Grenzgang zwischen Wahn und Wirklichkeit zu spüren, bei Marwan Shamiyeh und Florian Götz das Changieren zwischen den Polen von realer Präsenz und gespenstischer Erscheinung. Mit diesem Auftragswerk könnte die Oper Erfurt das schmale Repertoire spielbarer und überzeugender zeitgenössischer Opern um ein attraktives Stück bereichert haben wenn es denn eine Chance bekommt, nachgespielt zu werden. Von Bröder, dem Neuling in der Welt der Oper, wird man hoffentlich hören!
Werner Häußner
(Der Neue Merker, 22.3.2013)
Die Frauen der Toten feiert in Erfurt Uraufführung
Alois Bröder begeistert mit seiner ersten Oper Die Frauen der Toten. Das Ensemble steht der Qualität des Werkes in nichts nach.
Erneut bereichert die Erfurter Oper den Jahresspielplan durch eine Uraufführung. Dem Publikum in der Stadt und im Land gibt diese nun schon eingeführte Praxis gute Gelegenheit, wirklich Neues zu erleben, ungeachtet der Liebe zum gesicherten Repertoire.
In diesem Jahr hat Intendant Guy Montavon das Auftragswerk an den 1961 in Darmstadt geborenen Alois Bröder vergeben. Nach zahlreichen kammermusikalischen und orchestralen Werken legt der Komponist nun in Erfurt seine erste Oper vor.
Ihr Titel lautet Die Frauen der Toten. Ihren Stoff bezieht sie aus einer gleichnamigen, 1831 veröffentlichten Kurzgeschichte von Nathaniel Hawthorne. Der amerikanische Schriftsteller schrieb im Geiste der Romantik Geschichten, die auf den ersten Blick einfach erscheinen, aber eigentlich das menschliche Innere sondieren, das Unerklärliche erzählen und dem Zwiespalt von Sein und Schein nachspüren.
In der frühen Erzählung The Wives of the Dead erklärt er das Unentscheidbare zum Deutungsprinzip. Zwei Schwestern sind mit zwei Brüdern verheiratet, einer ein Soldat, der andere ein Seemann.
Die Frauen verzweifeln an der Nachricht vom Tod ihrer Männer, bis in der Nacht nach der Totenfeier nacheinander zwei Bekannte an die Tür ihres gemeinsamen Hauses klopfen und vom Überleben künden.
Ein winziges Textdetail am Schluss aber macht die simple Story offen: Kommen die Totgesagten nach Hause; oder ist die Rettung nichts als ein trügerischer Traum? Nicht das erzählte Ereignis, sondern dessen Interpretation ist das eigentliche ästhetische Ereignis.
Bröder hat diese Grenze zwischen Realität und Traum fasziniert. Für sein Libretto fand er die originelle Lösung, die beiden vernetzten Momente in zwei jeweils fünfzigminütigen Teilen doppelt, aber mit unterschiedlichen Akzenten vorzuführen.
Die erste Version, die Bröder auch mit "träumerische Realität" umschreibt, zeichnet Hawthornes Erzählung nach, die zweite, "realistischer Traum", präsentiert sie als Traum selbst.
Am Ende, wenn der Vorhang fällt, bleiben alle Fragen offen. So soll es ja auch sein. Da die Oper aber ihre Apotheose braucht, hat Bröder einen Auftritt des (antiken?) Chores angeklebt, der - schwarz gekleidet und von der Regisseurin Gabriele Rech von der Vorderbühne die beidseitigen Treppen des Saals hinaufgeführt - eine essayistisch hochgestochene Passage aus einem anderen Werk Hawthornes singt. Man versteht deren Sinn nicht, aber man kann sie im guten Programmheft nachlesen und feststellen, dass sie mit dem Werk selbst nichts zu tun hat. Aber als Opernfinale ist die gesangliche und räumliche Einvernahme des Publikums bei verhauchendem Orchesterschluss von schöner Wirkung.
Überhaupt ist Bröders musikalische Sprache außerordentlich effektvoll. Er folgt der seit den Siebzigerjahren zu verfolgenden Tendenz, den Unbedingtheiten der Neuen Musik die sinnliche Anziehungskraft von Klang und Farbe entgegenzusetzen. Den Sängern räumt der Komponist ausdrücklich melodische und emotionale Möglichkeiten des stimmlichen Gestaltens ein, die Mireille Lebel als Margaret und Marisca Mulder als Mary in prachtvoller Weise nutzen.
In ihrer Gesamtstimmung zieht Bröders moderne Komposition die "realistische" Erzählung paradoxerweise in den Bereich des Romantisch-Unheimlichen. Sie schafft überzeugend eine Atmosphäre des Undurchdringlichen, Geheimnisvollen, Bedrohlichen, Gespenstischen.
Hinein passt, dass der Komponist den toten Brüdern, trefflich gesungen von Marwan Shamiyeh und Florian Götz, einen Bühnenauftritt verschafft.
Das Unheimliche erscheint als Maß für die, wie Freud sagte, legitime Annahme des Unbewussten im Traum. Marys und Margarets Träume realisieren innere Wünsche in verschlüsselter Form. Als Resümee bleibt dann doch, gegen die These der völligen Offenheit, dass die Deutung der Handlung als latenter Zustand des Seelenlebens die Oberhand gewinnt.
In diese Richtung arbeitet auch die Regie von Gabriele Rech. In einem Hawthorne-gerechten Bühnenhaus, einem klaustrophobischen, fahl ausgeleuchteten Bühnengehäuse, mit großem Wohnzimmer und zwei Schlafzimmern darüber lässt sie Lebel und Mulder in feinsten psychischen Abstufungen agieren. Trauer sucht Trost; Verzweiflung steigert sich zur Neurose. Am Schluss liegen beide nebeneinander in einem Bett, hell angestrahlt, bewegungslos, im Traum vereinigt, im Leben wie tot.
Unter der Leitung von Johannes Pell erreicht das Philharmonische Orchester (in Kooperation mit der Thüringen Philharmonie Gotha) überzeugendes Interpretationsniveau.
Die Klangarchitektur mit sich spiegelnden Klangräumen und sich entfaltenden Motiven ist prächtig gefügt.
Man kann in kritischer Sicht Bröders Partitur durchaus Eklektizismus und Plakativität nachsagen. Aber die erklingende Musik ist von hoher, auch emotionaler, Wirksamkeit. Die fühlbare Berührtheit des Publikums und der heftige Beifall am Ende stehen dafür.
Wolfgang Wicht
(4.2.2013, Thüringer Allgemeine Zeitung)
Gespräch: Lotte Thaler und Burkhard Egdorf
Frage:
Das Erfurter Theater ist ein Mekka für Komponisten geworden. Seit der Eröffnung des schönen, neuen Hauses hat sein Schweizer Intendant Guy Montavon regelmäßig und nicht nur als Alibi Opern-Uraufführungen in Auftrag gegeben. Das besondere Merkmal seiner Auftragspolitik: Es werden nicht die stets üblichen "Verdächtigen", also etablierte Komponisten oder deren Schüler bedacht, sondern auch und besonders unbekanntere Tonschöpfer. Am vergangenen Samstag hatte der in Darmstadt lebende Komponist Alois Bröder Jahrgang 1961 seine Chance. Seine Oper Die Frauen der Toten nach der Erzählung The Wives of the Dead des englischen Romantikers Nathaniel Hawthorne, dem übrigens Herman Melville seinen berühmten Roman "Moby Dick" widmete, erlebte in Erfurt eine sehr erfolgreiche Uraufführung. Mein Kollege Burkhard Egdorf hat sie sich angehört und angeschaut. Zunächst einmal, wer ist Alois Bröder?
BE:
Alois Bröder wurde wie Sie erwähnt haben 1961 geboren in Darmstadt und studierte dort an der Akademie für Tonkunst zunächst Gitarre, und dann bei Manfred Trojahn Komposition sowie in Köln elektronische Komposition. Er ist bisher durch zahlreiche kammermusikalische Kompositionen darunter auch Werke für Gitarre aufgefallen und einige Orchesterwerke wurden mehrfach aufgeführt u.a. in Tokio, Slowenien, von der Deutschen Staatsphilharmonie und der Radiophilharmonie des NDR Hannover um nur einige zu nennen. Ja, und nun seine erste Oper in Erfurt, die mit vielen Bravos für Komponist, Regie und Interpreten begrüßt wurde. Ein Werk für mittelgroßes Orchester, darunter eine große Schlagzeuggruppe, elektronisches Zuspiel, vier Solisten und einen großen Chor. Alois Bröder, der bisher einige durchaus renommierte Stipendien erhalten hat, komponierte dieses großangelegte zweimal 50 Minuten währende Stück zunächst einmal ohne Auftrag. Er ging dann mit dem fertigen Werk an die Theater und Erfurt sagte zu.
Frage:
Worum geht es in der Oper Die Frauen der Toten?
BE:
Nathaniel Hawthorne, vor allem bekannt geworden durch seinen Roman "Der scharlachrote Buchstabe", hat sich besonders gerne mit der zugespitzten Schilderung des fromm-freudlosen Lebens der Puritaner jenseits "der alten englischen Fröhlichkeit" wie es Nathaniel Hawthorne einmal ausdrückte. Ein wenig von dieser puritanischen Enge und Engherzigkeit begegnet uns auch in der Inszenierung von Alois Bröders Oper durch Gabriele Rech. Die Geschichte von Hawthorne erzählt von zwei jung verheirateten Frauen, die ziemlich zeitgleich zu Witwen geworden waren und in einem Haushalt zusammen-, ja nun für einander leben wollen. Beider Männer waren Brüder. Margaret ist lebhaft, leicht reizbar, Mary sanft und fromm. Kurz nach der Nachricht des Todes, die Trauergesellschaft hat sich zurückgezogen, die Frauen haben sich in ihren Kammern schlafengelegt, hört zunächst Mary ein Klopfen an der Tür. Nachbar Parker überbringt ihr die Nachricht, dass ihr Mann noch am Leben sei. Voller Freude will sie zunächst Mary von dieser Glücksbotschaft berichten, will aber deren Leid nicht vergrößern und spart die Nachricht bis zum nächsten Tag auf. Einige Zeit später wird auch Mary durch Klopfen geweckt. Diesmal steht Stephen, ihr ehemaliger Verehrer vor der Tür und berichtet, dass ihr Mann noch lebe. Auch Mary will die Schwägerin in ihrer Trauer nicht wecken. In der Erzählung bleibt offen, ob Margaret oder Mary erwacht. Und dieses offene Ende hat faszinierende Konsequenzen meint Alois Bröder:
O-Ton Erfurt Bröder:
"Das Faszinierende an der Geschichte ist ja, wenn man sie liest und liest dann den berühmten letzten Satz: 'Und plötzlich erwachte sie' und man weiß nicht, wer 'sie' ist, ob das die eine oder die andere Frau ist also je nachdem, welche es dann ist, erschließt sich die Geschichte ganz anders. Also, wenn Margaret erwacht, heißt das, beide Männer leben tatsächlich, so, wie man es vorgestellt bekommen hat, und wenn Mary erwacht, dann sind beide Männer tot. Wenn man diese Geschichte daher auch der Grund für diese zwei Versionen: wenn man diese Geschichte ein zweites Mal liest, und auch ein drittes und viertes Mal, dann nimmt man plötzlich eine Subtilität wahr Formulierungen, Tatsachen, Bilder die sich ganz anders liest. Von daher eine absolut moderne Geschichte für mich, und wenn man sie ohne Namen und Zeitangabe zu lesen bekäme, würde man glaube ich nicht auf 1830 als Entstehungsjahr tippen."
Frage:
Für welche Lesart hat sich denn der Komponist Alois Bröder entschieden?
BE:
Also zunächst einmal muss man sagen, dass Alois Bröder diese Erzählung selber als sein eigener Librettist bearbeitet hat, und er hat zwei Versionen komponiert. Die Geschichte hat er nicht verändert, aber angereichert mit einer Art kommentierenden Chor, der auch zugleich die Trauergemeinde bildet ein Chor nach antikem Vorbild, der Lebensweisheitskommentare abgibt etwa von Hawthorne selbst, aber auch von Voltaire und auch biblische Zitate einstreut etwa das Gleichnis von den törichten Jungfrauen. Die beiden Versionen, also zunächst die realistischere Perspektive ist Version eins, sie wird in englischer Sprache gesungen (mit deutscher Übertitelung) und die zweite Version auf deutsch mit Rückkehr am Schluss ins englische. Im Unterschied zur Geschichte, treten in Version II die Ehemänner selbst in Erscheinung.
Frage:
Mit welchen Mittel arbeiten Komponist und Inszenierungsteam?
BE:
Im Grunde ist Alois Bröders Oper Die Frauen der Toten ein Kammerspiel. Alles spielt sich in einem Haus ab, in das wir wie in eine Puppenstube schauen. Eine Wohnstube, offen zur Eingangsdiele. In der Mitte führt eine Holztreppe zu den beiden Schlafzimmern von Mary und Margaret, wo sie schlafen und sich an- und auskleiden. Dann treten außer den Schwestern noch die beiden Boten auf und wie gesagt die Ehemänner. Daneben aber und das unterscheidet diese Oper aber von einer Kammeroper gibt es einen großen Chor, der am Anfang von Teil I, also Version I, und am Ende von Version II als große Trauergemeinde auftritt und durchaus bedrohlich massiert auftritt. Während der Szenen, in denen wir Margaret und Mary zuschauen und zuhören, tritt im ersten Teil ein Männerchor auf und singt aus dem Orchestergraben. Im zweiten Teil, der sich naturgegeben auch musikalisch stark auf den ersten Teil bezieht, in dem aber die Szenen teils vertauscht sind, hören wir die Frauenstimmen des Chores mit ihren kommentierenden Statements. Hier haben wir im Grunde die Perspektive der Frauen vor uns. Alois Bröder arbeitet mit einem ausgewachsenen Orchester. Seine Musik kommentiert das lineare Erzählen, ohne zu dekonstruieren. Die Bühnenerzählung kommt ohne permanente Hysterie aus, entbehrt aber dennoch nicht dramatischer Momente und Aufschwünge. Alles ist sehr kontrolliert und architektonisch auf den Punkt gebracht. Die Musik hat durchaus Anknüpfungspunkte in der Tradition. Ich empfand sie von der Stimmung sehr verwandt mit Musik des englischen Impressionismus und auch besonders Benjamin Britten. Bröder hat Ausdrucksmusik geschrieben. Wenn seine ProtagonistInnen singen, dann erleben wir einen Zusammenfall von Melodik und Emotion, die unmittelbar erkennbar war. Merkwürdigerweise wirkte diese Art des Umgehens mit Opernstimmen nicht antiquiert. Vielleicht lag dies auch am historisch im 19. Jahrhundert angesiedelten Kontext des Handlung. Kurze Sequenzen im Orchester klangen wie Reminiszenzen an Ravel und Janáček und insgesamt war ein freitonales Denken hörbar freilich durchaus aus der Perspektive bzw. der Hörerfahrung der Neuen Musik her gespeist. Besonders gefiel mir Bröders Talent, Atmosphäre einzufangen, sein lyrischer Atem und konkreter vielleicht sein sehr sanglicher Umgang mit Musik. Es gab große musikalische Bögen, feine Melismierungen und sehr sinnfällige syllabische Umgangsformen mit dem Text. Das führte zu großer Textverständlichkeit und war der Story selbst natürlich dienlich.
Hören wir vielleicht ein Musikbeispiel aus der Generalprobe, das mir freundlicherweise vom Theater Erfurt zur Verfügung gestellt wurde:
Musik...
BE:
In seiner Oper Die Frauen der Toten hat Alois Bröder wirklich ein Drama entwickelt bzw. Komponist und Regie ließen das Drama sich entwickeln. Hier an dieser Stelle muss ich unbedingt die Regiearbeit von Gabriele Rech, sowie die stimmige Bühne von Norman Heinrich und die ebenso stimmigen Kostüme von Gabriele Heimann erwähnen. Die Trauermenschen in schwarzer, strenger, altmodischer Kleidung. Zwei offene Gräber vor dem angeschnittenen, offenen, zweistöckigen Haus. Durchaus sparsam naturalistisch gestaltet. Marys Schlafkammer mit Kreuz an der Wand. Die Regisseurin, Gabriele Rech führt die "Massenszenen" quasi oratorisch. Oft sind die Bewegungen der Schwägerinnen wie unfrei, wie geknebelt (durch die gesellschaftliche Konvention und die schwer lastenden Moralgesetze), gegen die Margaret einmal im Wutaffekt aufbegehrt, indem sie Mary die Bibel oder das Gesangbuch aus der Hand schlägt und das Essen vom Tisch wirft. Am Ende des ersten Teils schlägt die Fürsorge Marys in einen angedeuteten Mord um. Mary erstickt Margaret mit dem Kissen. Gabriele Rech hat eine strenge, aber sensible Regie-Arbeit geleistet. Es gab weder Regiegags noch Übertreibungen, wohl aber wurden Stimmungen gewissermaßen auf die Spitze getrieben: etwa das Umschlagen von Trauer in Wut, von Fürsorge in Zwang und Zwanghaftigkeit, von Besorgnis in Gewalt. Besonders eindrucksvoll im zweiten Teil etwa in der Ankleideszene Margarets, wenn Mary sie frisiert und sie eigentlich exzessiv foltert. Der zweite Teil der Oper ist im Grunde eine beklemmende Ausdeutung und Spiegelung des ersten Teils. Hier werden sexuelle Überkreuzverhältnisse angedeutet. Die Boten der eigentlich guten Nachrichten werden zu bedrohlichen, latent gewalttätigen Männern. - Am Ende, von den harten Schlägeln auf der großen Trommel unregelmäßig, unerwartet und damit erschreckend begleitet, hat der Chor, also die Gesellschaft und damit die Realität die unbarmherzige Herrschaft. Die Solisten dieser Uraufführung sind allesamt Ensemblemitglieder des Theaters Erfurt, und insbesondere die beiden Schwägerinnen, Margaret (Mireille Lebel) und Marisca Mulder als Mary waren stimmlich und darstellerisch großartig. Vielleicht gilt dies noch mehr für Mireille Lebel. Die musikalische Leitung hatte Kapellmeister Johannes Pell, der 2011 von der Zeitschrift "Opernwelt" zum "Nachwuchskünstler des Jahres" nominiert wurde. Eine sehr gute Aufführung für ein absolut gelungenes Stück Musikdrama von Alois Bröder und das Drama hat bewegt nämlich das Publikum, das von Minute zu Minute sich steigernd in den Bann des Geschehens und seiner Darstellung gezogen wurde.
Frage:
Also ein großer Erfolg?
BE:
Ja, unbedingt.
Manuskript zum Beitrag von Burkhard Egdorf in der SWR 2-Sendung "Cluster", die am 6. 2.2013 zwischen 15.05 und 16.00 Uhr ausgestrahlt wurde.
Gespräch: Lotte Thaler und Burkhard Egdorf
Misterioso
Nathaniel Hawthorne ist ein Klassiker der amerikanischen Literatur (The Scarlet Letter), doch er wird bei uns nur wenig gelesen. Es mag deshalb erstaunen, wenn ein deutscher Komponist für seine erste Oper eine frühe, kaum bekannte Erzählung dieses Autors als Sujet wählt. In The Wives of the Dead, um 1830 geschrieben, geht es um zwei Witwen, die erst vor kurzem ihre Männer verloren haben. Während Mary ihr Schicksal duldsam hinzunehmen scheint, begehrt die temperamentvolle Margaret dagegen auf. Eines Nachts werden beide kurz nacheinander durch Nachbarn aus dem Schlaf gerissen, die ihnen mitteilen, daß ihr Mann doch noch am Leben sei. Beide wollen mit ihrer Freude den Schmerz der Freundin nicht vertiefen und behalten die Neuigkeit für sich. Sind die nächtlichen Besucher reine Traumgestalten? Hawthorne lässt es offen, doch der letzte Satz spricht dafür: "She suddenly awoke."
Alois Bröder, Librettist und Komponist in Personalunion, erzählt die Geschichte gleich zweimal. Träumerische Wirklichkeit und realistischer Traum sind dabei keine Alternativen, sondern bedingen und ergänzen einander. Den Schlüssel zum Verständnis liefert ein hinzugefügter Text aus einer anderen Hawthorne-Erzählung: "In den Tiefen eines jeden Herzens ist ein Grabgewölbe und ein Verlies." Unterbewußtes materialisiert sich. In Bröders am literarischen Original orientierten Textbuch und noch deutlicher in Gabriele Rechs Inszenierung werden - spätestens in der zweiten Version - die geheimen Verstrickungen der unter einem Dach lebenden Frauen deutlich. Mary liebt(e) den Mann Margarets und diese den ihren. Wenn der totgesagte Wunschmann tatsächlich zurückkäme, müßte die Nebenbuhlerin verschwinden... Ein Krimi aus den Abgründen der Seele.
Als Komponist geht Bröder keine neuen Wege - seine Musik hätte schon ein halbes Jahrhundert früher entstanden sein können -, doch für einen Opernanfänger zeigt er erstaunliches Theatergespür. In zweimal 45 Minuten hält er eine nicht nachlassende Innenspannung. Das Orchester malt in einem misterioso, das dramatische Entladungen nur gelegentlich unterbrechen, Seelenlandschaften aus. Auch der Duktus der Gesangspartien bleibt verhalten und ist durchweg kantabel. Oft blitzen Reminiszenzen an Komponisten wie Debussy, Ravel oder Britten auf (dessen The Turn of the Screw Anregungen zur Stoffwahl gegeben haben könnte), aber epigonal ist Bröders Partitur deshalb nicht.
Mit dem Erfurter Uraufführungs-Team hat er großes Glück gehabt. Der junge Dirigent Johannes Pell leitet die Vorstellung ruhig und souverän. Er findet eine bemerkenswerte Klangbalance; weder wird die Musik zum Soundtrack degradiert, noch trumpft das Orchester selbstgefällig auf. Die Regisseurin erreicht in der kargen, symmetrisch aufgebauten Einheitsszenerie Norman Heinrichs mit knappen Darstellungsmitteln ein Maximum an Bühnenwirkung. Der Abend ruht auf den Schultern der Frauen - der niederländischen Sopranistin Marisca Mulder (Mary) und des kanadischen Mezzos Mireille Lebel (Margaret) -, deren Spiel ohne Übertreibungen und vokales Forcieren auskommt. Die beiden Herren, der Bariton Florian Götz und der Tenor Marwan Shamiyeh, machen das Beste aus ihren Rollen, deren Profile dramaturgisch bedingt unscharf bleiben müssen.
Die Uraufführung wurde vom Erfurter Publikum uneingeschränkt herzlich aufgenommen, wobei nicht nur Sänger und Musiker, sondern auch das Regie-Team und last not least der Komponist mit Bravo-Rufen bedacht wurden.
Ekkehard Pluta
(aus: Opernwelt März 2013)
Nur geträumt?
Alois Bröders Die Frauen der Toten als Uraufführungs-Doppelpack in Erfurt
Es ist eine dankenswerte Gepflogenheit des Theaters Erfurt, in jeder Spielzeit eine Opernnovität aufs Programm zu setzen. An manch größerem Haus sieht das anders aus! Daß sich da keine musikdramatischen Zukunftsvisionen Bahn brechen, sondern eher konservative Musiktheater-Formate gepflegt werden, liegt nahe. Nach Uraufführungen von Jeffrey Ching ("Das Waisenkind"), Johanna Doderer ("Der leuchtende Fluß") und Mieczylaw Weinberg ("Lady Magnesia") war es nun an Alois Bröder, Erfurt einen Schritt weiter an die Gegenwartsmusik heranzuführen. Die Frauen der Toten, eine Adaption des gleichnamigen Stoffes von Nathaniel Hawthorne, setzte der süffigen Emotionalität seiner Erfurter Auftrags-Vorgänger ein psychologisierendes Kammerspiel von hohem Abstraktionsgrad entgegen, und dies gleich im Doppelpack.
Die Story ist schnell erzählt, ihre Deutung beschäftigt Literaturwissenschaftler seit Generationen: Zwei frisch vermählte Schwestern erfahren vom Tod ihrer Männer im Krieg und auf See, kurze Zeit später erhalten sie unabhängig voneinander überraschende Kunde, daß diese nun doch am Leben seien, verschweigen dies jedoch aus gegenseitiger Rücksichtnahme. Besonders der letzte Satz von The Wives of the Dead hat den Spekulationen Tür und Tor geöffnet: "But her hand trembled against Margaret's neck, a tear also fell upon her cheek, and she suddenly awoke." Wer ist "she"? Soll diese Geschichte "Wirklichkeit" evozieren oder stellt sie ein Traumgeschehen dar?
Alois Bröder erschienen die formalen Symmetrien und lakonischen Reduktionen des Hawthorne-Textes wie geschaffen für eine Opernadaption. Seine Einrichtung des Stoffes reflektierte die klassischen Deutungsmuster mit zwei "Versionen", die die wesentlichen Aspekte der Erzählung aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchteten ein zwiespältiges Unterfangen. In letzter Konsequenz ignoriert solche Trennung die Tatsache, daß die Ununterscheidbarkeit von Traum und Wirklichkeit eine bewußt angelegte Qualität von Hawthornes Erzählung ist. Kein Wunder, daß beide Lesarten am Ende so unterschiedlich nicht waren wie sollten sie auch.
Norman Heinrich (Bühne) und Gabriele Heimann (Kostüme) fingen die klaustrophobischen Züge des puritanischen Neuengland in einer stimmungsvoll beleuchteten Trostlosigkeit von Wohnstube und Schlafkammern ein, die im Gegensatz zur Story auf einen Naturalismus setzte, der selbst die Stockflecken auf den Tapeten mit einbezog. Äußere Armut und innere Tristesse fanden auf diese Weise zu einer atmosphärisch überzeugenden Einheit. Gabriele Rech (Regie) konzentrierte sich im ersten Teil auf die Herausarbeitung der unterschiedlichen Charaktere der zwei Schwestern (prüde und gottergeben: Mary; leidenschaftlich und trotzig: Margaret), um im zweiten die bis dahin nur angedeuteten sozialen und inneren Abgründe der Figuren noch mehr herauszukitzeln: Schuldgefühle, Ängste, die Ambivalenz von Zuneigung und emotionaler Abhängigkeit, das sexuelle Bedrängen der Männerwelt. Dies geschah in einer leichten Verschiebung, Vertauschung und Verfremdung der narrativen Versuchsanordnung, die das "Geschehen" von Version I noch ein wenig weiter in Richtung Unwirklichkeit kippen sollte. Der Mehrwert hielt sich in Grenzen.
Und die Musik? Bröders der Psyche seiner Figuren suggestiv verpflichtete Klangsprache bewegte sich über weite Strecken in durchaus konventionellen Bahnen. Das konnte Romantisch-Elegisches ebenso beinhalten wie Elemente der Minimal Music, konnte heikel in die Nähe von Filmmusik rücken und im nächsten Moment wieder in gestische Fragmente zerbröseln. Dann ließ der Bröder'sche Gemischtwarenladen ebenso aufhorchen wie in kurzen Augenblicken provokanter Heterophonie, die Charles Ives heraufbeschwor (Hawthorne stand den von Ives verehrten Transzendentalisten sehr nahe). Auch elektronische Zuspielungen wurden behutsam integriert Bröder studierte nicht nur bei Manfred Trojahn, sondern auch bei Hans Ulrich Humpert (elektronische Musik).
Im zweiten Teil gewann Bröders Klanggeschehen einiges an Intensität und Überzeugungskraft hinzu, weil das im ersten Part exponierte Material spannungsträchtig variiert, umgedeutet und kaleidoskopartig gebrochen wurde, als hätte der Komponist sich die nächtliche Welt-Wahrnehmung der Figur des Boten zu Herzen genommen (im Libretto leider ausgespart): "...and his lantern gleamed along the street, bringing to view indistinct shapes of things, and the fragments of a world, like order glimmering through chaos, or memory roaming over the past." Ja, man könnte den Eindruck gewinnen, Bröder hätte den Kunstgriff der Doublette vor allem ersonnen, um seine Musik noch einmal (viel interessanter) anders erfinden zu können.
Stimmlich setzte der Komponist konsequent auf den guten alten Gesang und ließ den Emotionen der Beteiligten freien Lauf. Marisca Mulder (Mary) und insbesondere Mireille Lebel (Margaret) verliehen den offensichtlichen Befindlichkeiten der Protagonistinnen ebensolche Präsenz wie den verborgenen, und das nicht nur stimmlich! Johannes Pells engagiertes und hochkonzentriertes Dirigat förderte aus der perkussiv reichhaltig besetzten Thüringen Philharmonie sehr Differenziertes zu Tage, auch wenn man sich an manchen Stellen mehr Mut zur Erschütterung gewünscht hätte. Wie merkt doch der Chor im Schlußbild an: "In den Tiefen eines jeden Herzens ist ein Grabgewölbe und ein Verlies, obgleich die Lichter, die Musik und das lustbare Treiben darüber sie vergessen machen könnten."
Dirk Wieschollek
(in: Neue Zeitschrift für Musik 2/2013)
Nächtliche Botschaften
Was ist Traum, was Wirklichkeit? Nathaniel Hawthorne lässt diese Frage in seiner Novelle Die Frauen der Toten offen. Worum geht es? Zwei Brüder und ihre Ehefrauen teilen sich ein Haus. Dann bekommen Mary und Margaret unabhängig voneinander - die Nachricht vom Tode ihrer Ehemänner und trauern. In der Nacht haben beide Frauen nacheinander ein unheimliches Erlebnis. Ihnen wird nämlich berichtet, die Männer seien noch lebendig! Doch keine wagt es, der anderen davon zu berichten, um deren Verzweiflung bloß nicht zu steigern. Doch sind die Geschehnisse dieser Nacht wahr? Und was geht in den beiden Frauen vor?
Genau das rückt Alois Bröder in den Fokus seiner Oper nach Hawthornes Erzählung, die jetzt im Theater Erfurt ihre Uraufführung erlebte.
Bröder zeigt die Handlung gleich zwei Mal: Während zu Anfang die äußere Geschichte erzählt wird, schaut der Komponist in Version II in die Frauengestalten hinein, lotet sie psychologisch aus. Da sind nicht mehr nur die hart arbeitenden einfachen Trauernden. Stattdessen erleben wir ihr Seelenleben, ihre Ängste, aber auch ihre Begierden und ihre Sehnsüchte. Und immer bleibt es spannend. Nie wird genau klar, was Realität ist und was Imagination. Am Ende singt der Chor von den dunklen Seiten der Seele: Mary und Margaret schlafen im selben Bett ein. Vorher nehmen sie Tabletten. Wollen sie einen gesunden Schlaf, um sich dem Alltag zu stellen - oder folgen sie ihren Männern in den Tod?
Regisseurin Gabriele Rech richtet wie Bröder ihr Augenmerk ganz auf die Frauen, baut auf den Kontext von Hawthornes Erzählung und lässt das Ganze in einem einfachen Haus unter einfachen Menschen spielen, deren Leben von Arbeit und Glauben geprägt ist. Das könnte wie bei Hawthorne ein puritanisches Dorf in Neuengland sein, aber auch irgendeine Arbeitersiedlung des 19. Jahrhunderts. Norman Heinrich baut das karge Zuhause von Mary und Margaret, Gabriele Heimann stattet die Protagonistinnen höchst unauffällig aus äußerlich wirken sie grau, während in ihnen Vulkane lodern. Rech ordnet sich ganz der Musik Bröders unter, evoziert gedämpfte Emotionen auch hier sind Mary und Margaret von ihrem Umfeld geprägt. Und Rech findet kleine, verblüffend einfache Bilder wie etwa die tropfnasse Uniformjacke des ertrunkenen Seemanns.
Alois Bröder komponiert sehr deskriptiv, ja bildhaft. Er macht deutlich hörbar, was er sagen möchte. Da ist kein doppelter Boden und deshalb ist es leicht, ihm in seinen Aussagen zu folgen.
Johannes Pell dirigiert das Philharmonische Orchester Erfurt. Und lässt Bröders an keiner Stelle stagnierende Partitur effektiv zur Geltung kommen. Imposant ist die ungeheure Schlagwerksbatterie, die das Bildhafte der Musik genau zur Geltung bringt.
Marisca Mulder (Mary) und Mireille Lebel (Margaret) machen den Abend gesanglich zum Ereignis. Einfach großartig, wie sie mit einander kommunizieren, großartig aber auch, wie beide ihr Seelenleben ausbreiten. Da passiert ganz viel: die beiden legen eine ungeheure Fähigkeit zur Nuancierung an den Tag. Das übrige Ensemble steht werkgemäß in ihrem Schatten.
Die Frauen der Toten ist ein Opernabend, der genaues Zuhören und sehen erfordert. Das sollte man wissen. Mitnehmend oder anrührend ist er nicht - aber ganz sicher lohnend.
Thomas Hilgemeier
(theater:pur, 4.2.2013)
Flucht in die Grauzone
Einmal im Jahr gibt es an der Erfurter Oper etwas gänzlich Neues. Am vergangenen Wochenende war es wieder soweit: Diesmal ging es auf der Opernbühne um eine Selbsterforschung am trauernden, am sterbenden Herzen.
Die Frauen der Toten heißt die neue Oper. Es ist die diesjährige Uraufführung der Oper in Erfurt. Die Geschichte hat etwas von einer schwarz eingefärbten "Cosi fan tutte". Mozarts Liebesschule ist ja eine Operation am offenen Herzen, bei der es darum geht, den erotischen Schwingungen nachzuspüren, die auch nach einem gegebenen Versprechen der ewigen Liebe nicht verschwinden. Beim Opernerstling des 1961 in Darmstadt geborenen Komponisten Alois Bröder geht es um eine Selbsterforschung am trauernden, oder gar sterbenden Herzen.
Anders als die beiden Männer bei Mozart sind nämlich der Ehemann von Mary und Margret wirklich tot. Kurz nach der Hochzeit sind die beiden Brüder in Nathaniel Hawthornes (1804-1864) Erzählung, die der neuen "Oper in zwei Versionen" Inhalt und Titel gibt, beim Militär und auf See umgekommen. Zurück lassen sie ihre beiden Frauen im gemeinsam bewohnten Haus. Das hat Norman Heinrich wie ein angeschnittenes Puppenhaus auf die Erfurter Bühne gesetzt. Die Schlafzimmer der beiden jungen Witwen befinden sich unter der Dachschräge. Mit Federbett und Kreuz an der Wand. Unten markieren Küchenherd, Tisch und Stehlampe den Wohnbereich dieser tristen puritanischen Wohngemeinschaft. Wohl, weil hier bislang die Kinder fehlen, und nun auch die Männer, tauchen der Nachbar und ein Jugendfreund auf, um den beiden Frauen mitten in der Nacht die gute Nachricht zu verkünden, dass der jeweilige Mann gar nicht tot sei.
Oder wünschen sich die Frauen, in ihrem Schmerz, dass diese Boten kommen? Oder ihre Männer? Oder gar der jeweils andere Mann? Jedenfalls behalten Mary und Margret die an sich gute Nachricht, von der nicht so ganz klar ist, ob es wirklich eine gute Nachricht ist, erst mal für sich. Um die jeweils andere nicht noch mehr zu verletzen? Oder sich selbst nicht zu verunsichern? Oder aus dem Alptraum "allein unter Puritanern" oder "allein in der Familie des Schwagers" aufzuwachen?
Das Prinzip dieser Geschichte und der Oper ist die Infragestellung. Der Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung. Was die melancholische, elegisch getragene, traurige Musik suggeriert und die Vorlage bewusst in der Schwebe lässt, verdeutlich Bröder durch die zwei Versionen, mit denen er die gleiche Geschichte sozusagen zweimal liest.
Regisseurin Gabriele Rech vermag es in der Trauer der Frauen, ganz im sprichwörtlichen stillen Kämmerlein, die ganze Lebenstragik von unerfüllten Sehnsüchten und verbauten Perspektiven subtil zu verdeutlichen. Ob nun Margrets sexuelles Begehren oder Marys Aufbegehren - das ist hochpräzise in Szene gesetzt. In der ersten Version wird der Besuch der einen am Bett der andern am Ende zu einem Mordversuch mit der plötzlich über den Kopf gedrückten Bettdecke. Die zweite Version endet sogar mit einem gemeinsamen Selbstmord. Was mit der Beerdigung der Männer im ersten Teil begann, endet im zweiten damit.
Vielleicht ist aber alles nur ein Angsttraum, und die herumgeisternden Männer sind wirklich da und nicht nur in der Einbildung der Frauen, die sich dann auch noch von den "Falschen" begehrt sehen. Dass am Ende tatsächlich mal fast alle Fragen offen bleiben, hat hier Methode. Und entspringt der düsteren, die Traumdeutung antizipierenden Atmosphäre bei Nathaniel Hawthorne. In dessen Grauzonen-Vorliebe fühlt sich Alois Bröder mit seiner Komposition ein. Und lässt sie auf ihr Ende hin, im dunkel Düsteren zu fließen. Mit ariosen Vorlagen, die vor allem von Marisca Mulder (als Mary) und Mireille Lebel (als Margret) traumwandlerisch zum Leuchten gebracht werden. Marwan Shamiyeh als Margarets Mann und Stephen und Florian Götz als Marys Mann und Nachbar Parker absolvieren ihren Teil der Geschichte ebenso überzeugend wie der Chor der Trauergemeinde samt Pfarrer (Manuel Meyer). Johannes Pell am Pult des Philharmonischen Orchesters Erfurt erweist sich als einfühlsamer Anwalt für diese neue Oper, bei der die schwebende Grenzgängerei zwischen Traum und Wirklichkeit und ihre verstörende Nachwirkung durchaus zu den Qualitäten zählen. Das uraufführungserfahrene Erfurter Publikum honorierte diesen Dienst an der Gattung angemessen.
Roberto Becker
(inSüdthüringen.de, 5.2.2013)
Hawthorne, zweimal gelesen: Zur Uraufführung von Alois Bröders Oper Die Frauen der Toten in Erfurt
Sind die beiden totgeglaubten Brüder am Ende doch noch am Leben? Dürfen die beiden Ehefrauen also auf die baldige Rückkehr ihrer Männer hoffen, wie die in tiefer Nacht erscheinenden Botschafter verheißen? Oder ist diese Hoffnung nichts weiter als ein Wunschtraum, ein Hirngespinst ohne jede realistische Grundlage? Alois Bröder lässt diese Frage in seinem Stück „Die Frauen der Toten“ genauso offen wie Nathaniel Hawthorne, der mit seiner um 1830 entstandenen Erzählung The Wives of the Dead die literarische Vorlage für Bröders am Theater Erfurt uraufgeführte Oper lieferte.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Mary und Margaret, die vom Tod ihrer Gatten erfahren haben, leiden unter diesem Verlust, bekommen aber jede für sich und unabhängig voneinander die Nachricht, die Männer seien gerettet und kämen bald nach Hause zurück. Doch weder die eine noch die andere der Schwägerinnen bringt es fertig, diese doch eigentlich so frohe Kunde miteinander zu teilen. Jede meint, die andere womöglich zu verletzen, fürchtet durch die eigene Freude die Trauer der anderen zu vergrößern. Eine paradoxe Situation!
Gabriele Rech macht aus diesem Stoff eine psychologische Studie, angesiedelt in einer kleinbürgerlichen Dorfgesellschaft Anfang des 18. Jahrhunderts in Amerika, geprägt vom Pietismus und seinem straffen Moralkodex, der in Bröders Oper aber eigentlich nur am Rande eine Rolle spielt: Mary ist die frommere der beiden Frauen, die sich eher ihrem Schicksal fügt und brav in der Bibel liest. Margaret dagegen ist selbstbewusster, weniger religiös geprägt.
Bröder liest Hawthornes Erzählung zweimal nacheinander und verarbeitet sie auch zweimal: zuerst als "träumerische Realität", dann als "realistischer Traum". Zweimal fünfzig Minuten Bühnengeschehen, dazwischen eine Pause. Die Gedanken der beiden Schwägerinnen verlassen vor allem im zweiten Teil das eigene Innere und werden greifbar, in all ihrer Ambivalenz fürs Publikum nachvollziehbar. Fragen stellen sich: in welcher Beziehung stehen die Frauen zum eigenen Ehemann und dem der anderen? Und welches Verhältnis hat Mary zu ihrem Jugendfreund Stephen, welches Margaret zu ihrem Nachbarn Parker dies die Überbringer der nächtlichen Kunde vom Überleben der Gatten? Gabriele Rech belässt es bei Andeutungen. Die Imaginationskraft des Zuschauers ist da sehr gefragt.
Bröders Musik, die in keinem Moment verstört, wandelt auf dem festen Fundament der Tonalität. Mitunter schimmern Debussy und Ravel durch seine Partitur, die Kapellmeister Johannes Pell am Pult des Philharmonischen Orchesters Erfurt sehr lebendig, mit kräftigen Farben und großer Präzision umsetzt. Ein ganzes Arsenal an Schlagwerk liefert enormen klanglichen Reiz und verleiht Bröders Musik ihren bildhaften Charakter, mal kommentierend, mal illustrierend.
Es wird großartig gesungen im Erfurter Haus, das sich seit Jahren mit schöner und anerkennenswerter Regelmäßigkeit sowohl um Uraufführungen als auch um Wiederentdeckungen erfolgreich bemüht. Marisca Mulder (Mary) und Mireille Lebel (Margaret) gehen voll und ganz auf in ihren sehr anspruchsvollen Haupt-Partien, bleiben ihnen an Emotionen nichts schuldig. Marwan Shamiyeh und Florian Götz in den kleineren Rollen der Ehemänner beziehungsweise Botschaftsüberbringer sind ebenso verlässliche Partner wie Manuel Meyer als Pfarrer sowie Reinhard Becker, Ralph Heiligtag, Jan Rouwen Hendriks und Tobias Schäfer als Trauergäste.
Alois Bröder wurde nach der Uraufführung vom Publikum gefeiert, ebenso das Regieteam um Gabriele Rech. Ob diese Oper, die streckenweise eher einer oratorischen Meditation gleicht, womöglich an anderen Häusern nachgespielt wird, muss sich zeigen. Der personelle Aufwand jedenfalls ist überschaubar groß, das Sujet allemal lohnend.
Christoph Schulte im Walde
(nmz-online, 4.2.2013)
Auch in dieser Spielzeit setzt das Theater Erfurt seine stolze und nicht genug zu lobende Tradition fort, in jedem Jahr einen Komponisten mit einem neuen Werk zu beauftragen. Die Frauen der Toten, die diesjährige, auf einer Erzählung von Nathaniel Hawthorne basierende Uraufführung von Alois Bröder ist bereits die vierzehnte Oper, die in Thüringens Landeshauptstadt aus der Taufe gehoben wurde.
Der 1804 in Massachusetts geborene Hawthorne, der mit Washington Irving und Edgar Allan Poe zu den Vätern der amerikanischen Kurzgeschichte gezählt wird, entstammte einer alten puritanischen Familie. Das erklärt, warum seine Erzählungen immer wieder um die Themen Sünde, Schuld und Sühne kreisen, warum er die psychologischen und sittlichen Konsequenzen von Handlungen und Situationen untersucht und sie oft symbolisch überhöht darstellt.
Der aus Darmstadt gebürtige Alois Bröder (Jahrgang 1961) legt mit Die Frauen der Toten seine erste Oper vor nach etwa 90 Instrumental- und Vokalwerken. Er hat The Wives of the Dead, eine frühe Kurzgeschichte von Hawthorne, als Vorlage gewählt und das Libretto selbst geschrieben. Um dem komplexen Inhalt möglichst gerecht zu werden, hat er zwei durch eine Pause getrennte, je 50 Minuten lange Versionen der Oper geschrieben, die sich wechselseitig durchdringen. Zwei junge Frauen, Mary und Margaret, leben gemeinsam in einem Haus, dessen Räume sie, abgesehen von den beiden Schlafräumen, gemeinsam benutzen. Sie haben vom Tod ihrer Männer (die Brüder sind) erfahren, der eine ist als Soldat gefallen, der andere in der See ertrunken, versuchen sich gegenseitig zu trösten und gehen schließlich zu Bett. Mitten in der Nacht erscheint Parker, ein Nachbar, um Margaret zu sagen, daß ihr Mann keineswegs gefallen, sondern wohlauf sei. Zunächst will sie ihre Freude mit Mary teilen, überlegt es sich dann aber anders, weil sie deren Leid nicht durch ihr Glück verstärken will. Bald danach erscheint Stephen, um Mary, die er einst liebte, davon zu unterrichten, daß auch ihr Mann gar nicht ertrunken sei. Sie reagiert wie Margaret und will dieser die glückliche Nachricht nicht mitteilen. Hier endet die Story abrupt und lässt viele Fragen offen, auch die, ob die beiden nächtlichen Besuche wirklich stattgefunden haben oder nur von den Frauen geträumt wurden.
Die Regisseurin Gabriele Rech und ihr Bühnenbildner Norman Heinrich haben die düster-bedrückende Atmosphäre der puritanischen Gesellschaft im Neuengland des 19. Jahrhunderts hervorragend eingefangen. In beiden Versionen ist das Innere eines Hauses zu sehen, eine karg eingerichtete Stube mit nur den allernotwendigsten Möbeln. Eine steile Treppe führt in das Dachgeschoß zu den beiden Schlafzimmern, in denen lediglich jeweils ein Bett steht, mit einem großen Kreuz am Kopfende ganz so, wie es den bescheidenen Lebensumständen damals entsprach. Zu Beginn der Oper stehen beide trauernden Frauen fast regungslos in der Mitte des Raumes, zusammen mit zahlreichen Trauergästen, die biblische Sprüche murmeln. Die beiden Gräber in der Stube deuten bereits an, daß Realität und überhitzte Phantasie sich schon in "Version I" durchmengen.
Das durch die Fenster zu sehende, sturmbewegte Meer kommt in "Version II" dem Haus bedrohlich nahe, was auf beeindruckende Weise die aufgewühlten Emotionen der beiden Frauen symbolisiert. Wenn dann ganz am Schluß grelles Licht auf die leeren Sessel, in denen die beiden vermeintlich toten Männer gesessen haben, gerichtet ist, dann werden damit weitere Fragen aufgeworfen, denn in "Version II", die noch mehr Spannung bietet als die erste, werden Margaret und Mary jeweils vom Mann der anderen aus dem Schlaf gerufen, was einhergeht mit heftigen sexuellen Phantasien.
Die beiden Protagonistinnen unterscheiden sich im Charakter nicht wesentlich. Marisca Mulder als Mary gestaltet das schmerzliche Wechselbad ihrer Gefühle mit großer Eindringlichkeit und gut fokussiertem Sopran, während Mireille Lebel (Mezzosopran) die ungehaltenere und passioniertere Margaret in all ihren Nöten meisterhaft porträtiert. Marwan Shamiyeh kann seinen schönen, sicher geführten Tenor in den beiden kleineren Doppelrollen als Margarets Mann und als Stephen vorteilhaft einbringen, und Florian Götz (Bariton) vermag sich in der anderen Doppelrolle als Marys Mann und Parker zu profilieren.
Alois Bröder hat eine suggestive Musik geschrieben, die das Spannungsfeld zwischen Realität und Phantasie oder Wunschdenken bühnengerecht auslotet. Er lässt mal auf Deutsch und mal auf Englisch singen, was zusätzlich die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum verwischt. Es gibt Anklänge an die französischen Impressionisten, an Bartók und andere Komponisten, und wegen ihrer enigmatischen Vielschichtigkeit ist diese Oper auch Brittens "Turn of the Screw" verwandt, was durch ein Fast-Zitat des geisterhaften Peter Quint deutlich wird.
Was das exzellent aufgelegte Philharmonische Orchester Erfurt (in Kooperation mit der Thüringen Philharmonie Gotha) an Klangraffinement zu bieten hat, ist beachtlich. Dem hellwachen Dirigat des jungen Johannes Pell ist zu verdanken, daß die dramatischen Höhepunkte die nötige Durchschlagskraft haben und die Klangvaleurs dieser relativ leicht rezipierbaren Partitur angemessen zur Geltung kommen. An dem Erfolg dieser Uraufführung hat auch der Opernchor des Theaters Erfurt unter der Leitung von Andreas Ketelhut einen nicht unerheblichen Anteil. Langer, freundlicher Beifall und einige Bravos für den Komponisten.
Jürgen Gahre
(Opernglas, 4/2013)
Nachricht vom Überleben
Mary hört nachts im Schlaf die Stimme ihres Mannes, der immer wieder sehnsuchtsvoll ihren Namen ruft. Doch kann das sein? Schließlich hat sie die Nachricht seines Todes erhalten. Und so mischen sich in Die Frauen der Toten Schmerz und Hoffnung, Realität und Traum ohne eine abschließende Antwort zu geben. Der Komponist Alois Bröder hat, im Auftrag des Theaters Erfurt, seine erste Oper geschrieben, wo sie nun auch uraufgeführt wurde. Ein Werk, das die scheinbar gleiche Geschichte in zwei Fassungen erzählt.
Dafür steht ein aufgeschnittenes Häuschen mit Erd- und Dachgeschoss auf der Bühne (Norman Heinrich). Davor beginnt "Version I" an zwei offenen Gräbern, mit einem rhythmisch flüsternden Männerchor, der Trost zu spenden versucht. Später sind die beiden Frauen, die Schwestern Mary und Margaret, allein im Häuschen und trauern um die beiden Brüder, mit denen sie verheiratet waren. Doch dann kommen die nächtlichen Stimmen und die Boten, die beiden Frauen berichten, ihre Männer lebten noch. Ob das nun Wirklichkeit, Hoffnung oder Traum ist, lässt dieser erste, englisch gesungene und deutsch übertitelte Teil offen. Gabriele Rech erzählt in klaren, einfachen Bildern, die sie immer mal wieder erstarren lässt, Stimmung und Licht sind eher düster. Musikalisch ist dieser erste Teil, nach einer Kurzgeschichte von Nathaniel Hawthorne ("Der scharlachrote Buchstabe"), spannend und abwechslungsreich. Das beginnt mit Schlagwerk und Bläsern düster und schroff, nur die Harfe lässt so etwas wie Hoffnung anklingen. Die Musik ist sehr klangmalerisch, dreht mal mächtig auf, um auch mit kurzen, rhythmischen Holzschlägen unheilvolle Stimmung zu zaubern, hat aber auch längere, zarte Streicherpartien, die Ruhe in diese unheilschwangere Geschichte bringen.
Die beginnt in "Version II" in der Nacht, in der die Frauen in ihren Zimmern im Dachgeschoss sind. Nun wird deutsch (mit deutschen Übertiteln) gesungen und ein Frauenchor übernimmt das raunende Flüstern. Wieder kommen die Boten mit der Nachricht vom Überleben, aber sie schleichen wie Verführer oder Verehrer in die Zimmer der Frauen. Und die reagieren nach dem ersten Glücksschreck durchaus unterschiedlich: Freuen sie sich über die angekündigte Rückkehr oder fürchten sie sie eher? Und wie mit der Schwester umgehen, die, so glauben sie, immer noch Witwe ist? Diese Nöte und Innenansichten dominieren den zweiten Teil, in dem der Aufmarsch der Trauergemeinde (in den Saal hinein) alle Hoffnungen und Träume beendet.
Musikalisch ist diese zweite Version nicht ganz so interessant wie Version I. Doch Marisca Mulder (Mary) und Mireille Lebel (Margaret) machen das wett durch ihre prägnante Darstellung der unterschiedlichen Schwestern. Und der junge Kapellmeister Johannes Pell am Pult des Philharmonischen Orchesters Erfurt hält die vielen musikalischen Fäden energisch und fest in der Hand. Nach zwei Stunden Bravos für den Komponisten.
Ute Grundmann
(Die Deutsche Bühne, 4.2.2013)
Tödliche Träume
Uraufführung in Erfurt: Die Frauen der Toten von Alois Bröder nach Nathaniel Hawthorne
Am Ende sterben die Frauen an einer Überdosis Schlaftabletten. Hand in Hand im riesigen Ehebett träumen sie sich in den Tod. Mary und Margaret sind die Frauen der Toten in der erstmals 1831 anonym erschienenen Erzählung The Wives of the Dead des amerikanischen Autors Nathaniel Hawthorne, in der es um die Erinnerung an ein 100 Jahre zurückliegendes Ereignis geht. Die jungen Frauen leben in einem Haus. Sie heiraten fast zeitgleich die Brüder Stephen und Parker, ihre Lebensweise ändert sich kaum, einzig die Schlafräume sind getrennt. Wiederum fast zeitgleich erfahren beide vom Tod ihrer Männer, die an einem Tag begraben werden. Noch in der Trauernacht bringt zunächst der Nachbar Margaret die Nachricht, dass ihr Mann am Leben sei, und wenig später erfährt auch Mary gleiches über ihren Mann. Beide aber halten die Botschaften voreinander zurück. Jede möchte den Schmerz der anderen nicht vergrößern durch die eigene Glücksnachricht. Was Traum ist oder Wirklichkeit, was Wunschtraum, was Verdrängung ist, bleibt in der von biblischen und philosophischen Motiven durchzogenen Erzählung, deren fast symmetrische Struktur verblüfft, offen. Eine mögliche Aufhellung, etwa die Rückkehr der Männer, verweigert der Autor.
Dieser Ambivalenz der Gefühle Klänge zu geben, hat den 1961 in Darmstadt geborenen Komponisten Alois Bröder gereizt. Im Auftrag des Theaters Erfurt schrieb er seine erste Oper, die jetzt in der Inszenierung von Gabriele Rech unter der musikalischen Leitung von Johannes Pell uraufgeführt wurde. Bröder, der auch das Libretto schrieb, hält sich eng an den Gang der kurzen Erzählung, verstärkt aber deren phantastischen Anspruch mit kommentierenden Chorpassagen und auch dadurch, dass die Boten den Frauen zuvor jeweils im Traum als ihre Männer erscheinen und auch jeweils von einem Sänger dargestellt werden. Und mehr noch, es ist eine Oper in zwei Versionen, zweisprachig, englisch und deutsch, und im Sinne des Autors in beiden Versionen mit offenem Ausgang.
Um der eigentlich undramatischen Handlung dennoch so etwas wie Spannungsmomente zu geben, hat die Regisseurin noch ein weiteres Rätsel hinzugefügt. Schon in der ersten Version kommen sich die beiden Frauen für einen Moment ungewöhnlich nahe, was aber von Mary, der strengeren und religiös gebundeneren, abrupt beendet wird. In der zweiten Version scheinen beide Boten als Männer die Fantasiegestalten für die Projektionen des erotischen Verlangens beider Frauen zu sein, um in ihren Traumwelten zu erleben, was in der religiös-fundamental geprägten Gesellschaft nicht möglich ist. Dafür findet die Regisseurin bei klarer Führung der Figuren sensible Momente. Hier waltet viel Behutsamkeit und die Sängerinnen Marisca Mulder und Mireille Lebel als Mary und Margaret berühren stark in der Darstellung ihrer unterschiedlichen Charaktere, die zerbrechen müssen an der ausweglosen Einsamkeit. Alle anderen Figuren bleiben schemenhaft bei ihren knappen Auftritten im Haus auf der Bühne von Norman Heinrich, dessen Wohnraum symbolisch an die Gräber grenzt und im Hintergrund Raum bietet für die Weite bewegter Meeresprojektionen.
Vom Symbolismus ist auch die Partitur Alois Bröders durchzogen. In beiden Versionen bekommt der symmetrische Charakter auch klangliche Entsprechungen, künstlerisch aber so gestaltet und geschickt durch Veränderungen gebrochen, dass platte Wiederholungsallüren vermieden werden. Vielleicht ist die handlungsarme Thesenhaftigkeit des Librettos der Grund für sparsame Dramatik. Der wahrscheinlich immer wieder beabsichtigte Stillstand des Geschehens mit Momenten der Stille, flirrenden und kaum mehr hörbaren hohen Streicherklängen erschließt sich nicht immer als Moment der Gestaltung. Über weite Strecken des 100 Minuten langen Werkes gelingt es aber, in der vielfarbigen Sprache des Orchesters so etwas wie visionäre Gegenklänge zu entwerfen zum aussichtslosen Grau des Geschehens.
Alois Bröders Musik provoziert nicht. Den Sängern gibt er melodisches Material. Wenn die Männer im Traum wie in Vokalisen die Namen der Frauen rufen, mag mancher an Passagen aus Benjamin Brittens "The Turn of the Screw" erinnert sein, auch Momente impressionistischer Stimmungen klingen vertraut und bewahren doch ihre Eigenständigkeit im Zusammenspiel des ganzen Werkes, dem es letztlich an Bühnenwirksamkeit noch etwas mangelt.
Dass man am Ende aber doch recht aufgewühlt mit dem Empfinden produktiver Ratlosigkeit entlassen wird, ist nicht zuletzt dem äußerst engagierten Ensemble zu verdanken, Solistinnen und Solisten, dem Opernchor, dem Philharmonischen Orchester Erfurt in Kooperation mit der Thüringen Philharmonie Gotha.
Boris Michael Gruhl
(Dresdner Neueste Nachrichten, 5.2.2013)
Opern-Uraufführung begeistert in Erfurt
Traum oder Wirklichkeit? Alois Bröder lässt in seiner Opern-Uraufführung Die Frauen der Toten (The Wives of the Dead) diese Frage bis zum Ende offen - und fordert damit am Samstagabend Mitdenken und Fantasie der Premierengäste im Erfurter Opernhaus heraus.
Er reflektiert die kaum bekannte Story von Nathaniel Hawthorne (1804-1864) in zwei Versionen: als "träumerische Realität" und "realistischen Traum" - Sigmund Freud mit seinen Traumdeutungen und seiner Tiefenpsychologie scheint nicht fern.
Die Zuschauer im nicht ausverkauften Theater lassen sich auf das Spiel ein und danken dem Komponisten, dem Team um Gastregisseurin Gabriele Rech, Solisten, Chorsängern und Musikern mit langem Beifall.
Es ist eine zumeist düstere und beklemmende Welt, in die Bröder (Jahrgang 1961) in seinem Opern-Erstling entführt. Das Bühnenbild von Norman Heinrich - ein spartanisch möbliertes Puppenhaus im Großformat - unterstreicht den Eindruck noch. Das Stück spielt in einem puritanischen Milieu im 19. Jahrhundert. Zwei Frauen erfahren kurz nach der Trauerzeremonie durch zwei Boten, ihre Männer - zwei Brüder - seien noch am Leben. Doch keine der Frauen traut sich, der anderen das eigene Glück mitzuteilen.
Ihn habe an dem Stoff gereizt, dass Hawthorne so vieles offen gelassen hat - bis zum Ehebruch über kreuz, bekennt Bröder. Er erzählt die Geschichte in zwei Versionen. Einmal streng nach dem literarischen Original, in Version zwei spinnt Bröder den vorgegebenen Faden weiter. Die charakteristischen Musikmotive für beide Frauen vermischen und überlagern sich fast bis zur Unkenntlichkeit - auch elektronische Musik kommt dezent zum Einsatz.
Die Frauen offenbaren jetzt ihre Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen - und sie tauschen die Schlafzimmer. Die Brüder rufen überkreuz nach den Frauen. Sichtbar wird dieses "Durcheinander" für die Zuschauer auch durch den Wechsel von Englisch zu Deutsch und den Wechsel der Chorsänger: die Männer müssen den Frauen weichen.
Regisseurin Gabriele Rech hat mit sicherer Hand die handlungsarme Geschichte detailreich und spannend ausfüllt. Jede Geste hat ihre Bedeutung. Überzeugend gesanglich und schauspielerisch umgesetzt von den Solisten - vor allem Marisca Mulder als Mary und Mireille Lebel als Margaret. Das Stück von Hawthorne, einem der Begründer der amerikanischen Nationalliteratur, offenbare immer neue Sichtweisen, bekannte Rech. "Das ist das zutiefst Moderne an Hawthorne."
Antje Lauschner
(dpa, 3.2.2013)
Sturm der Emotionen
Das Stück spielt in einem puritanischen Milieu im 19. Jahrhundert in Neuengland. Zwei Frauen erfahren kurz nach der Trauerzeremonie durch jeweils einen Boten, ihre Männer sollen noch am Leben sein. Doch keine der Frauen traut sich, der anderen das eigene Glück mitzuteilen.
So einfach dieser Plot zunächst scheint, so verschlungen präsentieren sich dem Zuschauer die beiden Versionen der einen Geschichte. In der ersten Version hangelt sich Komponist Alois Bröder vor allem an der Original-Version des Textes von Nathaniel Hawthorne entlang und lässt auf Englisch singen. In einer zweiten Version führt Bröder den vorgegebenen Faden weiter. Die Musikmotive für die beiden Frauen verweben sich.
Die Frauen offenbaren Hoffnungen, Sehnsüchte und Ängste. Sie tauschen die Schlafzimmer. Die Brüder rufen überkreuz nach den Frauen. Erkennbar wird die Verwobenheit für die Zuschauer auch durch den Wechsel von Englisch zu Deutsch und den Wechsel der Chorsänger: die Männer müssen den Frauen weichen. Bröder benennt darum die zwei Versionen einmal als "träumerische Realität" und als "realistischen Traum".
Norman Heinrich öffnet mit seinem Bühnenbild einen Guckkasten in die Psyche zweier Frauen. Die Gemeinschaft der Schwägerinnen ist auch räumlich verwickelt, denn die Brüder und ihre Frauen leben im selben Haus. Ein kinderloser Doppelhaushalt mit gemeinsamer Küche und Wohnzimmer unten und separierten Schlafzimmern oben, damit gestaltet Bühnenbildner Norman Heinrich die Bühne zum überdimensionalen Puppenhaus, das den Zuschauer hinein nimmt in die Geschehnisse.
Reduziertheit herrscht auch bei den Kostümen. Die Kostüme von Gabriele Heimann verweisen auf die Entstehungszeit der Erzählung und ihren puritanischen Stil. In der hochpräzisen und von atmosphärischen Lichtwechseln verstärkten Regie von Gabriele Rech werden die unruhigen Nächte der beiden Witwen zu einem beklemmenden Einblick in das Schicksal der beiden Frauen Mary und Margaret, die nur mit ihren Männern eine Chance auf ein erfülltes Leben haben können. Die aber allein von der Trauer überwältigt werden.
Tatsächlich kann man von der ersten zur zweiten Version eine enorme dramatische Steigerung erleben. Rech führt ihr Personal mit sicherer Hand. Jede Geste hat eine eigene Bedeutung. Überzeugend gesanglich und schauspierisch umgesetzt wird das von den Solisten - vor allem Marisca Mulder als Mary und Mireille Lebel als Margaret.
Marisca Mulder als Mary singt und spielt virtuos alle Facetten dieses sensiblen Charakters. Sie ist fromm und hängt an der Bibel, sie schreit nicht wie Margaret ihren Schmerz gleich hinaus und erlebt deshalb den Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit sehr intensiv. Sie verkörpert diese menschliche Ebene, die viele Menschen vom Erwachen aus bösen Träumen her kennen.
Mit der Rolle als Mary taucht sie übrigens tief in die eigene Vergangenheit ein, denn ihre Vorfahren kommen aus dem kleinen Fischerdorf Paesens-Moddergat. Dort gibt es ein Fischermuseum und einen Friedhof, wo nur Seeleute begraben sind. Vielleicht sind es diese persönlichen Erfahrungen, die ihrer Stimme die Überzeugungskraft verleihen. Mal ist sie versonnen melodisch, ein anderes Mal eindrucksvoll begehrlich nach Glück strebend.
"Suchend" hat Alois Bröder über die Partitur geschrieben, kaum wahrnehmbar schleicht sich der Ton "e" im dreifachen Pianissimo der 1. Violinen ein, dann folgt eine Harfe, die Marys Gesang begleitet. Eine siebenstufige Leiter mit dem Umfang einer Oktave, die Marisca Mulder da zu bewältigen hat. Und sie meistert diese Herausforderung brillant, traumwandlerisch ihrer Rolle angemessen. Sie verkörpert auch stimmlich das Prinzip Hoffnung.
Margaret dagegen ist ein lebhaftes und reizbares Temperament, und sie wird von Mireille Lebel enorm lebensecht gespielt. Nach der Begegnung mit dem Nachbar Parker, gesungen von Florian Götz, wird sie zu sängerischen Höchstleistungen herausgefordert. Die hohe Lage der Flöten unterstreichen das von ihr gesungene Hoffnungsmotiv, das in seiner Fragilität vergehen muss. Mireille Lebel atmet geradezu diese Kurzlebigkeit ihrer Gefühlsaufwallungen. Sie ist stimmlich das Gegenstück zu Mary.
Marwan Shamiyeh als Margarets Mann und in der Rolle des Stephen singt lange melodiöse Szenen auf Englisch mit Mary und damit einen anderen Charakter als auf Deutsch in der zweiten Version der Oper. Für ihn als Tenor hat der Komponist alles in bester Lage geschrieben, dort, wo seine Stimme am besten läuft, und Marwan Shamiyeh zeigt sich in Bestform.
Die Musik der Oper vermittelt auch Lebensnähe. Sie ist schauspielerisch inszeniert, und Entwicklungen sind nicht vorhersehbar. Besonders fasziniert das Publikum die Liebesszene im zweiten Teil. Die verkörpert Marwan Shamiyeh vielleicht so glaubhaft, weil er und Marisca Mulder auch im richtigen Leben ein Paar sind.
Der Chor bildet in dieser Oper den roten Faden, ist Erzähler und Akteur im Wechsel. Dass der Chor dies auch akustisch so gut darstellt, verdankt er der akribischen Anleitung durch Andreas Kettelhut. In der zweiten Version tritt der Chor als Trauergemeinde auf, doch auch die Trauerzeremonie wird zur Eröffnung eines neuen Horizontes. Die ambivalente Einheit von statischem Auftreten des Chores und der gesanglicher Varianz: das hat Andreas Kettelhut mit seinem Chor zu einer großen stimmlichen Leistung erarbeitet. Die Chor-Trauergäste: Manuel Meyer als Pfarrer, Reinhard Becker, Ralph Heiligtag, Tobias Schäfer und Jan Rouwen Hendriks überzeugen durch düsteren Auftritt und bilden das puritanische Milieu ab, das den Hoffnungen und Sehnsüchten der Frauen gegenüber steht.
Johannes Pell, dem Dirigenten, gelingt es, das Orchester präzis durch diese Wellenstürme zu führen. Scheinbar ohne Mühe gelingt es ihm, Orchester, Chor und Sänger zu einer musikalischen Einheit zu formen. Dabei hat ihm der Komponist viele Aufträge erteilt. Gleich zu Beginn sind die musikalischen Ingredenzien scharfe, knappe, harmonisch offene Akzente wie Schlagwerk und Klavier, tiefe Streicher, Hörner, Trompeten und Posaunen. Eindrucksvoll und einfühlsam genau leitet Pell das Orchester am Schluss: nach dem sukzessiven Verklingen des Tuttis dem Klavier zu in einem chromatischen Quartgang das Ende zu besiegeln. Eingehüllt ist das Ganze in ein langes Abwärts-Glissandi von Harfe, Celli und Kontrabässen. Dieser "Passus duriusculus" steht als Topos für Schmerz und Niedergang. Und Pell meistert mit dem Orchester diese Passage so gut, dass dem Zuschauer auch für einen Moment der Atem stockt.
Regisseurin Gabriele Rech hat mit hoher Professionalität die reduzierte Geschichte detailreich und spannungssteigernd ausgeformt. Das Stück von Hawthorne, einem der Begründer der amerikanischen Nationalliteratur, offenbart unter ihrer Ägide immer neue Einsichten. So viel Stimmigkeit ist auch im Erfurter Theater nicht immer, die Umsetzung dieser neuen Oper zeigt sich enorm kongruent. Vom Publikum gibt es deshalb anhaltenden und respektvollen Applaus.
Thomas Janda, Larissa Gawritschenko
(Opernnetz, 4.2.2013)
Erfurt: Die Frauen der Toten (Alois Bröder) UA Vorstellung am 5.4.2013
Als Auftragswerk des Theaters Erfurt wurde die Uraufführung von Die Frauen der Toten, Oper in zwei Versionen von Alois Bröder nach einer Erzählung des US-Autors Nathaniel Hawthorne gespielt. Das Libretto dazu wurde von dem jungen Komponisten für seine Oper selber eingerichtet. Für diese seine erste Oper ist ihm dabei gleich ein großer Wurf gelungen. Die Erzählung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts berichtet von zwei Frauen, die in New England mit ihren Männern, zwei Brüdern, unter einem Dach leben, die beiden Männer kommen etwa zur selben Zeit um, der eine als Landgänger an der Grenze zu Kanada, der andere als Seefahrer. Die Oper setzt mit der Trauerfeier für die beiden ein, bei der der Pfarrer beziehungsreich die Lazarusepisode verliest.
Nachdem sich die Frauen in den gemeinsamen unteren Räumen verabschiedet haben, gehen sie nach oben in die getrennten Schlafzimmer. Später kommt erst ein Bote, der der Frau Margaret mitteilt, daß er ihren Mann noch lebend gesehen habe, sie will aber ihre Schwägerin Mary nicht wecken, da sie diese mit der nur für sie positiven Nachricht nicht verstören will. Später teilt ein anderer Bote Mary genau das gleiche mit, also daß er ihren Mann noch lebend gesehen habe, und Mary verhält sich genauso wie Margaret. Anschließend spielen beide im Schlafzimmer ihre Freude aus. Die 2. Version/2. Teil ist die Reprise des ersten, mit Veränderungen.
Die Beerdigung am Beginn ist weggelassen. Die Frauen sind wieder oben, die beiden Männer treffen sich unten. Wieder tauchen die Boten Stephen und Parker auf, die die Frauen z.T. auch bedrängen und diesmal großen Jammer bei ihnen auslösen. Am Ende zieht die Beerdigungsgesellschaft durch den Gemeinschaftsraum des Hauses.
Alois Bröder arbeitet wie in seinen bisherigen symphonischen Werken mit großem Orchesterapparat. Elektronische Bänder, die das Mysteriöse und die Spannung noch verstärken, werden zugespielt. Passagenweise wird vom gut präparierten Chor sehr textdeutlich geflüstert. Bröder versucht immer mit Erfolg dem Ausdrucksgehalt des Textes nachzuspüren, wobei meist auf englisch gesungen wird, nur in der 2. Version wegen der gebotenen Eindringlichkeit auch in deutsch. Die Musik ist weitgehend tonal gehalten, dabei entwicklungsreich, und wird vom Erfurter Orchester außerordentlich gut gemeistert. Der junge Kapellmeister Johannes Pell hat sie sehr sensibel und kompetent einstudiert.
Gabriele Rech bringt mit viel Fingerspitzengefühl eine tragfähige Inszenierung zustande. Norman Heinrich hat ihr eine nach vorn aufgeschnittene Bauernkate gebaut, die die dumpfe pietistisch-quäkerische Atmosphäre blendend wiedergibt. In der Mitte führt eine Treppe in das obere Stockwerk, wo links und rechts die Schlafräume mit den Ehebetten abgehen.
An den verwaschenen schmierigen Blümchentapeten hängen jeweils Kreuze, Waschtische komplettieren die Einrichtung. Die Kostüme sind genau aus der Handlungszeit heraus entworfen (Gabriele Heimann). Die Trauergäste stellen ein männliches Solistenquartett dar. Der Pfarrer wird von Manuel Meyer auch akkurat gespielt. Margarets Mann/Stephen wird vom Tenor Marwan Shamiyeh, Marys Mann/Parker vom Bariton Florian Götz, beide in eindrücklichen Verkörperungen gegeben. Margaret ist der Mezzo Mireille Lebel mit grossem und schönstimmigem Timbre. Ihr "Gegenstück" ist Marisca Mulder mit lyrisch durchdrungenem, dabei weich geführtem Sopran. Beide verkörpern exzellent und spielen das Angstbesetzte dieser paradox makabren Erzählung aus.
Friedeon Rosén
(Der Neue Merker, 5.4.2013
Ganz real war dafür die Uraufführung von Alois Bröders Oper Die Frauen der Toten in Erfurt. Auch hier wurde eine Romanvorlage genutzt und in gleich zwei Lesarten umgesetzt. Ein modernes Opernwerk, das sich durch gute Hörbarkeit auszeichnete und vom Publikum begeistert aufgenommen wurde.
Deutsches Theaterverzeichnis, Oktober 2013
Uraufführung in Erfurt: Weibliche Lebensängste
Mit respektvollem Beifall ist Alois Bröders Oper Die Frauen der Toten am Theater Erfurt aufgenommen worden. Das Libretto basiert auf einer im 19. Jahrhundert veröffentlichten Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Nathaniel Hawthorne.
Dass Guy Montavon in Erfurt an seiner einst verkündeten Absicht festhält und jedes Jahr eine neue Oper in Auftrag gibt, ehrt ihn und das Haus. Solcher Entdeckerehrgeiz ist ein Dienst an der Gattung, die immer wieder mal eine Blutzufuhr braucht. Was sich heute leichthin mit dem Sprachbild aus der medizinischen Notversorgung ausdrücken lässt, war noch am Anfang des vorigen Jahrhunderts die Regel. Oper war ein Uraufführungsbetrieb.
Heute ist das anders. Da werden ein paar Dutzend allseits bekannte Werke immer wieder neu befragt, wodurch die szenische Interpretation einen ganz anderen Stellenwert gegenüber der Musik bekommen hat und zum Aufreger - im positiven wie im negativen Sinne - avanciert. Wo bei den alten Werken die neue, aus der Gegenwart abgeleitete Sichtweise der übliche Zugang zu den Stücken ist, so scheinen sich Opern-Komponisten heute konsequent auf ein gesichertes Stoff-Terrain aus der Vergangenheit zurück zu ziehen. Sie bedienen sich gleich in der Antike - wie Manfred Trojahn mit seinem "Orest", dessen deutsche Erstaufführung der künftige Leipziger Schauspielchef Enrico Lübbe gerade in Hannover vorbereitet -, oder sie assoziieren sich durch die geistigen Steinbrüche des psychologisierenden 19. Jahrhunderts - wie Wolfgang Rihm mit seinem um Nitzsche kreisenden "Dionysos", dessen Salzburger Uraufführung im Bühnenbild von Kunstsponti und Bayreuth Aspirant Jonathan Meese ebenfalls in diesem Monat in Heidelberg das erste Mal in Deutschland nachinszeniert wird.
In diese Spitzen-Kategorie gehört die erste Oper des 1961 in Darmstadt geborenen Komponisten Alois Bröder nicht. Aber sie steht als eine ästhetisch geschlossene, ohne verstörende Klangprovokation auskommende Komposition fürs Musiktheater durchaus für sich. Vor allem, wenn man der Oper auch das Geheimnisvolle, Uneindeutige zugesteht, das sich als Ahnung festsetzt, weiterwirkt und verunsichert. Bröder hat sich sein Libretto aus der gleichnamigen Erzählung des US-amerikanischen Romantikers Nathaniel Hawthorne (1804-1864) gebastelt und kombiniert dabei die englische Originalsprache mit deutsch gesungenen Passagen. Was er "Oper in zwei Versionen" - jede dauert 50 Minuten - nennt, ist im Grunde ein fast schon intimes und nach innen gekehrtes Kammerspiel, das die gleiche Geschichte in zwei Versionen erzählt.
Johannes Pell sorgt am Pult für den atmosphärisch dominierenden, wie akustischer Bodennebel vom groß besetzten Orchester imaginierten, melancholisch dräuenden Grundton. Der wird immer wieder von Crescendi durchbrochen und konturiert. Mit ariosen Bögen für die beiden jungen Frauen Mary (Marisca Mulder) und Margaret (Mireille Lebel), die versuchen mit dem Tod ihrer Männer fertig zu werden. Die Schicksalsgemeinschaft der beiden Schwägerinnen ist auch eine räumliche, denn die Brüder und ihre Frauen lebten in einem Haus. Mit diesem kinderlosen Doppelhaushalt mit gemeinsamer Küche und Wohnstube unten und separaten Schlafzimmern oben, hat Norman Heinrich die Bühne gefüllt. Die Kostüme von Gabriele Heimann verweisen auf die Entstehungszeit der Erzählung und ihren puritanischen Hintergrund.
Die erste Version der Geschichte beginnt mit der Beerdigung der Männer und berichtet dann, wie nachts erst Margaret und dann Mary die Nachricht erhält, dass ihr Mann noch lebe. Dass der eine Bote, Stephen (Marwan Shamiyeh), dann als Margarets Mann und der andere, Parker (Florian Götz), als der von Mary durch die Geschichte geistert, weist ebenso den Weg in die Irritation und Lebensverunsicherung, wie das jeweilige Verheimlichen der guten Nachricht vor der jeweils anderen Leidensgenossin.
In der hochpräzisen und von atmosphärischen Lichtwechseln verstärkten Regie von Gabriele Rech werden die unruhigen Nächte der beiden Witwen zu einer beklemmenden Reise in die Lebensängste von Frauen, die wohl nur mit ihren Männern eine Chance auf ein einigermaßen erfülltes Leben gehabt hätten. Die aber allein von der Trauer überwältigt werden.
In der ersten Version wird das Ausweichen Hawthornes ins Niemandsland zwischen Traum und Wirklichkeit zu einem Mord(versuch), in der zweiten, die fortan unerfüllte Sexualität verdeutlichenden Version zum Näherrücken der beiden. Wahrscheinlich in den gemeinsamen Tod. Am Ende ein Durchatmen und respektvoller Beifall. Vor allem dafür, dass die Oper Erfurt erneut einem neuen Werk einen adäquaten szenischen Rahmen gesichert hat.
Joachim Lange
(Thüringische Landeszeitung, 3.2.2013 )