Nach Auschwitz, so der vielzitierteste Satz von Adorno, sei es nicht mehr möglich, Gedichte zu schreiben. "Nach Auschwitz" – so nannte der Dichter, Essayist, Literaturwissenschaftler und Übersetzer Richard Exner einen Gedichtezyklus, der sich genau mit diesem lyrischen Problem beschäftigt. Es sind Gedichte, die selber vom Grauen handeln, ohne dabei vorzugeben, es bannen oder in Worte fassen zu können. Auschwitz taucht in ihnen nicht auf. Aber Auschwitz befindet sich in jeder Zeile im Hintergrund. Exner, geboren im Jahr 1929, ist als Lyriker in Deutschland nie wirklich zu Ruhm gelangt. Ende der 50er Jahre emigrierte er nach Amerika, studierte dort Literatur und hatte verschiedene Professuren an bedeutenden Universitäten inne. Nach seiner Emeritierung kam er 1992 nach Deutschland zurück. 1985 und 1992 sind in Deutschland zwei Bände mit seiner Lyrik erschienen.
Fast zwei Generationen jünger als Exner ist der Komponist Alois Bröder. Auf der Suche nach dem Text für eine Chorkomposition stieß Bröder auf Exners Zyklus "Nach Auschwitz". Diese Gedichte, schreibt er, entsprachen seiner Vorstellung dessen, wie man sich sprachlich dem Thema annähern könnte: "knapp, unprätentiös, klaglos, schmerzvoll – Privates verschmolzen mit Gesellschaftlichem". Einige Jahre später hat Bröder in den Orchesterliedern Left Silence fünf Gedichte aus anderen Bänden zur Vorlage für seine Musik genommen. Die Noten haften dabei nicht an einer synchronen und detailgenauen Ausdeutung einzelner Textnuancen, sondern interessieren sich für die grundsätzliche Aura eines Gedichts – dieser versuchen sie ein Bild zu geben. Die Funktion der Singstimme bestimmt Bröder vor allem als die eines Informationsträgers, abgelöst von ihr findet im Orchester die emotionale Ausdeutung der textlichen Gestimmtheit statt. Ein Orchester also, das "die Sprache färbt, tränkt, korrigiert, beleuchtet, umstimmt, attackiert oder besänftigt. Text und Musik versuchen sich gegenseitig zu erklären." Aus dem Antagonismus dieser beiden Elemente entsteht auf neuer Ebene also ein Drittes. Bröder nennt es "die Tiefenschärfe des Gedankens." Den Worten "gelassenes Schweigen" im dritten Gedicht korrespondiert in Exners englischer Fassung der Ausdruck "left silence". Nicht eine "Gelassenheit", sondern Hinterlassenes, Übriggebliebenes scheint hier also gemeint.
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Bröder wählte fünf Gedichte aus und ordnete sie zum Bild eines Lebenszyklus:
1.) "Stockend und sehr zerbrechlich", so die Vortragsanweisung für den Mezzo, beginnt das Porträt eines Kindes. Leben noch vor dem Zustand seiner Entfaltung – ein melodisches Motiv, das in engem Tonraum pendelt, bestimmt Singstimme wie Orchester. Getrieben von einer Sehnsucht nach Glück und Transzendenz vollzieht sich eine allmähliche Beschleunigung und Loslösung aus der Selbstbezogenheit des engen Tonraums.
2.) Morgenlied könnte vermutlich auch "Jugend" heißen. Entfesseltes Leben. Während sich die Singstimme zu rufartigen Terzen befreit hat, liefert das Orchester ein überschäumendes Mosaik verschiedenartigster musikalischer Bausteine.
3.) Die Erkenntnis von Freiheit bildet mit dem dritten Lied das Zentrum des fünfteiligen Zyklus und damit den Schnittpunkt zwischen Geburt und Verlöschen. Der Moment der Willensentscheidung als der zeitlose Augenblick des Verharrens zwischen Vergangenheit und Kommendem. So zeigt dieses Lied sich janusköpfig und in Spiegelgestalt. Es kennt sowohl das gesangliche Verlöschen ("wortlos") wie auch einen fast Beethovenschen Freiheitsenthusiasmus. Das Pathos des Gongmotivs, vor dem die Singstimme eingangs zu versagen droht, wird am Ende enthusiastisch von ihr selbst geführt.
4.) Der weite Tonraum, den Freiheit öffnete, wird in den folgenden Stücken sukzessive zurückgenommen. Der Zyklus als ganzer ist rückläufig. Vom Bewußtsein des Alterns ist in Stummes die Rede. Erstarrung zwischen zwei Tönen: ein gewaltiger kalt klirrender Triller verbindet auf dem Höhepunkt Orchester und Singstimme, wenn die Rede ist vom "entsetzlichen Rascheln der samenlosen Schoten auf der Terrasse".
5.) Tod, aber auch Transzendenz verhandelt das Stück Ewigkeit. Statik wie im vorigen Stück zunächst auch hier. Kündete die aufgewühlte Trillerfigur noch von Entsetzen, so kehrt – nach einem gellenden Todesschrei – jetzt aber Ruhe ein: lang ausgehaltene Bläserklänge im Pianissimo, denn "einmal wird dein Atem wieder Wind". Ein freies melodisches Fluten in den Violinen setzt ein, das bis zum Erlöschen des Stückes führt.


(Roland Quitt, Programmtext zur Uraufführung, Bielefeld 2001)

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