Ein warmer Spätsommerabend im September 2005: Am Freiberger Buttermarkt sitzen Kneipenbummler und genießen Caipirinha. Den Soundtrack dazu liefert die Mittelsächsische Philharmonie in der nur wenige Schritte entfernten Nikolaikirche mit Fernando Morais "Brasília Episódio Sinfônico" – einem klanggewaltigen Stück, das die Zuhörer zu Begeisterungsstürmen reißt. Und das den Musikkritiker die Augen reiben lässt: War das nicht gerade die oft so verschmähte Neue Musik, die das Publikum im von Großstädtern als "Provinz" belächelten Mittelsachsen zu enthusiastischem Applaus animiert?
Es ist einiges ungewöhnlich in den Konzerten der Mittelsächsischen Philharmonie, seit Jan Michael Horstmann im Jahr 2004 Generalmusikdirektor in Freiberg und Döbeln wurde. Die Tradition gewordene Abfolge deutscher Konzerte mit Ouvertüre, Solokonzert und Sinfonie gehört hier der Vergangenheit an. Der gut gemeinte Rat, im zweiten Teil nichts Modernes zu spielen, damit das Publikum nicht in der Pause verschwindet – Horstmann schert sich nicht darum. Sondern gibt seinen Konzerten programmatische Titel. "Neues aus der Neuen Welt" heißt der Saisonauftakt mit dem brasilianischen Stück. "Inseln im weiten Ozean" nennt sich ein halbes Jahr später ein Konzert, in dem sich Mendelssohns kleinere Konzertstücke für Klavier und Orchester mit Werken von Toshio Hosokawa und Toru Takemitsu abwechseln.
Und das Publikum? Das zeigt, dass es experimentierfreudiger und neugieriger ist, als viele Programmplaner denken – wenn ihm nur vernünftig erläutert wird, was es hört. Die Werkeinführungen des Dirigenten vor den Konzerten sind in Freiberg und Döbeln darum schon Tradition, und wenn es nötig wird, lässt Horstmann auch direkt vor der Aufführung den Taktstock sinken, um den Zuhörern die neuen Töne ans Herz zu legen.
Eine CD, die nicht die hundertzweiundachtzigste Interpretation von Beethovens Dritter vorstellt, sondern die mit Neuer Musik Zeugnis ablegt vom Anspruch des Ensembles und seines Leiters, erscheint da nur logisch. Daß man nach nur drei Jahren gemeinsamer Arbeit schon aus einer ganzen Reihe uraufgeführter Werke auswählen kann, nötigt Respekt ab: Die deutschen Komponisten könnten einer sorglosen Zukunft entgegen blicken, wenn sich alle Ensembles so um die Zeitgenossen kümmerten.
Es ist die Musik des 21. Jahrhunderts, die Horstmann regelmäßig in Freiberg und Döbeln aus der Taufe hebt. Die hat nichts mehr von der starren Ideologie früherer Jahrzehnte. Was einst der große Walter Benjamin prophezeite – daß der postmoderne Künstler die riesige Vielfalt gleichzeitig verfügbarer Stile und Techniken bedienen werde, als ziehe er die Schubladen eines großen Schrankes auf und zu – das ist das Hauptmerkmal der fünf ausgewählten Stücke: ein Nebeneinander verschiedener Musikvorstellungen, die sich nicht im Mindesten aneinander reiben.
Allein zwischen dem flirrenden "Lichtstück" und dem kraftvollen Konzert für Orchester von Oliver Korte liegen hörbare Welten. Susan Oswells "Tango on the rocks" wiederum spielt derart genüßlich mit Effekten, daß wohl noch vor zwei Jahrzehnten die Gralshüter der hehren Avantgarde die Nase darüber gerümpft hätten. Alois Bröders Vingt Moments wiederum ist das, was das Publikum gewöhnlich als "Moderne Musik" bezeichnet – und doch ist es gerade hier spannend zu sehen, wie der Komponist das Ensemble immer wieder neu fordert.
Das nämlich ist die Kehrseite der Medaille: Neue Musik im Sinfoniekonzert kann nur funktionieren, wenn das Orchester an derartige Klänge gewöhnt ist, wenn das Ensemble auch große Stücke kammermusikalisch feinsinnig spielen kann. Jan Michael Horstmann griff hier zu einem Trick: Er dehnte einfach das Repertoire in beide Richtungen aus. Daß in deutschen Konzerthallen hauptsächlich nur die 130 Jahre zwischen 1780 und 1910 stattfinden, schadet nämlich der Alten ebenso wie der Neuen Musik.
Nun aber erklingt in den Freiberger Sinfoniekonzerten Johann Sebastian Bach und Claudio Monteverdi neben Bernd Alois Zimmermann und Hans Werner Henze. Und die Musiker erkennen, daß die barocken Neuerungen den heutigen ähneln. Die Forderung, Papier unter die Saiten eines Streichinstrumentes zu legen, wurde nämlich keineswegs erstmals von Karlheinz Stockhausen in einem Musikstück notiert. Vielmehr war es Heinrich Ignaz Franz Biber, der in der 1673 geschriebenen Sonate "La Battaglia" den Effekt erfand. Die Mittelsächsische Philharmonie hat dieses Stück natürlich auch gespielt – und ein ganz klein wenig hört man dies aus den vorliegenden Aufnahmen auch heraus: Denn Instrumentalisten, die Zuhörer für Alte Musik begeistern, können zweifellos ihr Publikum auch auf neue Töne neugierig machen.

Hagen Kunze, Dezember 2007